Schule der Lüfte wolkenreiter1
Lark fragte sich, ob es wohl auch nicht sprach.
Einen Augenblick später trippelte Dorsa aus der Werkstatt in die Hütte. In der Hand hielt sie einen Bund federartiger Pflanzen. Sie beugte sich über Lark, tastete ihr Bein ab und untersuchte ihre verbundenen Rippen. Es tat sehr weh, und Lark biss vor Schmerzen die Lippen aufeinander, gab jedoch keinen Laut von sich. Sie wollte nichts mehr von dem Trunk, der sie so schläfrig werden ließ. Sie wollte wach bleiben.
Genauso wie sie die Kraft des wachsenden Lebens spürte, wusste, dass die Bäume Knospen trieben, die Weinstöcke Früchte trugen und das Gras am Fuße der Felsklippe dichter wurde, fühlte sie, dass etwas Wichtiges unmittelbar bevorstand.
Dorsa brachte ihr einen alten Stock mit einem gepolsterten Kreuzstück, und Lark humpelte auf die Krücke gestützt durch die Werkstatt in die Sonne hinaus. Tup trank gerade gierig aus einem großen Eimer Wasser. Das Mädchen – Dorsa nannte sie immer nur schlicht das Mädchen – hatte ihm die Decke abgenommen und sie auf der Treppe zusammengelegt. Tup trottete zu Lark, wieherte hell und galoppierte dann quer über die Wiese; eine eindeutige Einladung. Er öffnete die Flügel, die in der Sonne fast wie Ebenholz glänzten.
»Nein, Tup!«, rief Lark. »Wir fliegen noch nicht! Ich kann noch nicht einmal reiten, vom Fliegen ganz zu schweigen!«
Tup drehte um, galoppierte zu ihr zurück und blieb mit aufgestellten Ohren und erhobenem Kopf direkt vor ihr stehen. Lark hätte lachen müssen, wäre er ein Hund gewesen. Dabei schoss ihr durch den Kopf, was wohl aus Beere geworden war. Sie hoffte, dass der Oc-Hund den Weg zurück zur Akademie gefunden hatte.
Als sie Tup die Hand hinhielt, senkte er den Kopf, stupste sie mit dem Maul an und galoppierte dann wieder aus gelassen über die Wiese. Lark biss sich auf die Lippen und bedauerte, dass sie keine Flügelhalter mehr hatte. Tup lief bis zur Klippe hinunter. Er bockte, machte Luftsprünge, spreizte die Flügel und drehte sich dann zu ihr herum, um sich zu überzeugen, ob sie seine Vorführung auch gebührend würdigte.
Als er zu ihr zurückkam, packte sie seine Mähne und schüttelte ihn. »Nein, Tup«, wiederholte sie. »Du darfst nicht fliegen! Es ist zu gefährlich. Es könnte dich jemand sehen!«
Er schnaubte und stampfte unwillig mit dem Huf, faltete
jedoch gehorsam die Flügel. Einen Augenblick später steck te er den Kopf in den Wassereimer, soff geräuschvoll und graste dann friedlich weiter.
Dorsa brachte Lark einen Stuhl aus der Werkstatt, damit sie sich davor in die Sonne setzen konnte. Lark nahm ihn dankbar an. »Er wird also nicht wegfliegen?«, erkundigte sich das Kräuterweib.
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Lark. »Er braucht Bewegung, aber … ich möchte nicht, dass ihn jemand sieht. Weiß noch irgendwer, dass wir hier sind?«
»Nein, aber nein«, erklärte Dorsa. Sie hockte sich auf die Türschwelle und hielt ihr faltiges Gesicht in die Sonne. »Nein, nur das Mädchen und ich. Das nächste Haus ist in Clellum, und das ist mindestens eine halbe Meile entfernt. Das Mädchen spricht nicht, wie du siehst, und ich auch nur, wenn ich will!« Sie lachte gackernd und schüttelte den Kopf. »Sie sind also weggelaufen, oder? Haben beschlossen, dass die Akademie nichts für Sie ist?«
»O nein«, widersprach Lark. »Aber nein, ich bin gern dort, auch wenn …«
Dorsa musterte sie. »Auch wenn was …?«
»Einige der Mädchen mögen mich nicht sonderlich, weil ich ein Bauernmädchen aus dem Hochland bin.«
»Aber es gefällt Ihnen dort, hm?«
»Ja. Fliegen möchte ich mehr als alles andere.«
Dorsa hatte Ähnlichkeit mit einem Vogel, als sie jetzt den Kopf auf die Seite legte und sie mit ihren kleinen, funkelnden Augen betrachtete. »Ach so? Und wieso sind Sie dann davongelaufen?«
»Jemand hat versucht, mir Tup wegzunehmen.«
»Ich dachte, so etwas ginge nicht, weil er an Sie gebunden ist und dergleichen.«
»Das stimmt auch. Es ist falsch. Er würde niemals mehr fliegen, aber diesem … Jemand … ist das gleichgültig.«
Dorsa schürzte die faltigen Lippen. »Diesem … Jemand?«, hakte sie nach.
Lark lehnte den Kopf gegen die Wand. Die Geräusche, die Tup beim Grasen machte, trösteten sie, und es gelang ihr fast, sich einzureden, dass es ihr trotz des dumpfen Schmerzes in ihrem Bein und des festen, etwas hinderlichen Verbandes um die Rippen gutging. Leise sagte sie: »Ich meine den neuen Fürst. Er ist die einzige Person, die Macht über die
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