Schule für höhere Töchter
»Ich habe das nie gekonnt. Es gibt Lyrikseminare, aber so was habe ich nicht belegt.«
»Nun, es ist sicher nicht zu spät, dich gegen dieses Seminar zu entscheiden. Geh einfach zu Miss Tyringham oder ihrer Assistentin. Wenn du bleiben willst, schreibst du bis zum nächsten Mal ein Gedicht. Es muß kein gutes Gedicht sein, weißt du; es kann etwas Dummes sein oder, was immer eine gute Übung ist, ein italienisches Sonett, eine Villanelle oder eine Sestine. Wenn du dich an eine feste Versform hältst, wird es dir zumindest Spaß machen, auch wenn es kein epochales Gedicht wird.«
Alice Kirkland öffnete den Mund, um zu widersprechen – und machte ihn wieder zu, als fünf Augenpaare sie durchbohrten. Es wurde deutlich, daß Alice nur so lange den »advocatus diaboli« spielen würde, wie die anderen hinter ihr standen – eine Feststellung, die sechs schlechte Gedichte wert war.
»Ich habe da über ein paar mögliche Diskussionspunkte nachgedacht. Wir müssen sie nicht behandeln, sie liegen jedoch auf der Hand und werden in der einen oder anderen Form wahrscheinlich ohnehin zur Sprache kommen. Vielleicht wird euch dadurch klar, welche Aspekte des Stückes euch besonders interessieren. Übrigens, auch wenn ich dazu neige, immer weiterzureden – eine Angewohnheit, die ich, wie auch das Rauchen, nicht aufgeben kann oder will – dürft ihr mich jederzeit unterbrechen.
Ich habe gerade erst angefangen, über die ›Antigone‹ zu lesen, das will ich euch ganz ehrlich sagen. Ich rechne nicht damit, euch stets eine Unterrichtsstunde voraus zu sein, wie es Pädagogen leider oft versuchen. Ich denke, ihr holt mich ein oder überholt mich sogar, und ich wünsche mir nur, daß wir am Schluß des Seminars mehr über die ›Antigone‹ wissen und vielleicht auch mehr darüber, wie man eine lebensnahe und lebenswichtige Arbeit angeht.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Elizabeth McCarthy. »Ist denn die ›Antigone‹ lebensnäher und wichtiger als Caesar oder Cicero, und muß man sie anders behandeln?«
»Ich finde die ›Antigone‹ tatsächlich lebensnäher, aber über diesen Punkt kann man diskutieren, und, wie gesagt, ich hoffe, daß ihr ihn in Frage stellen werdet. Grob betrachtet gibt es wohl zwei Arten von Literatur: Die eine spricht uns mit unseren heutigen Ängsten noch immer an, die andere wendet sich an ein jeweils zeitgenössisches Publikum und kann für uns nur von wissenschaftlichem Interesse sein, indem wir versuchen herauszufinden, was das Werk für diejenigen bedeutet haben mag, für die es geschrieben wurde. Nehmen wir zum Beispiel ein Stück wie ›Bartholomäusmarkt‹ von Ben Johnson. Es ist eine herrliche Komödie, wenn man genügend über das sechzehnte Jahrhundert weiß, um die Scherze zu verstehen.
Shakespeare dagegen spricht gewissermaßen das Grundsätzliche an. Die Beschäftigung mit Johnsons Stück würde ich als eine Aufgabe der Literaturgeschichte bezeichnen, die Untersuchung eines Stücks von Shakespeare als eine Aufgabe in Literaturkritik; aber es kann vorkommen, daß das eine vom anderen nicht völlig zu trennen ist; und ich hoffe, euch ist klar, daß ich diese Trennung auch nicht mache.« Die Klasse grinste, und Kate fühlte sich schon besser.
»Wir, auch die, die sich im Griechischunterricht durch dieses Stück gekämpft haben, finden es besonders interessant, daß es so sehr von der heutigen Zeit handelt«, sagte Freemond Oliver. »Ich meine die Geschichte von dem Tyrannen, der allen seine Gesetze und seine Vorstellungen von Patriotismus aufzwingen will, und von dieser jungen Frau, dieser Individualistin, die ihrem Gewissen folgt, wenn es um Recht und Unrecht geht, und die aus Liebe handelt.«
»Sicher«, sagte Kate. »Aber ich möchte mit euch darüber diskutieren, ob Kreon wirklich ein Tyrann ist – in vielen Dingen hat er durchaus recht, und gerade das macht das Stück so modern. Man kann mit George Eliot sagen, daß der Konflikt in der Diskrepanz zwischen individuellem Urteil und den Konventionen der Gesellschaft liegt; aber es ist gefährlich anzunehmen, daß gesellschaftliche Konventionen grundsätzlich falsch sind, auch wenn wir für den Begriff ›konventionell‹ nur Verachtung übrig haben. Ohne ein paar Konventionen wäre unser Leben ein Kampf, der täglich aufs neue bei Null anfinge.«
»Ein Mensch, der jeden steinigen will, der seinen Gesetzen zuwiderhandelt, ist ein Tyrann«, erklärte Angelica Jablon.
»In vielen Punkten hat Kreon das Recht auf seiner Seite«,
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