Schule für höhere Töchter
sagte Betsy Stark, »besonders für ihn spricht, daß er seine Einstellung ändert, was ohnehin eine der menschlichen Fähigkeiten zu sein scheint, zu der nur sehr wenige sich tatsächlich durchringen können. Man denke nur an Bill Buckley und seine veränderte Haltung zur Studentenbewegung oder an Eleanor Roosevelt.«
»Das erinnert mich an die Diskussionen darüber, ob am ›Moratorium Day‹ schulfrei sein soll oder nicht«, sagte Irene Rexton. »Wir haben schließlich einen sogenannten Kompromiß geschlossen, der so aussah, daß wir zur Schule kamen und in Gruppen über den Vietnam-Krieg diskutiert haben. Das hätte mir aber nicht die Möglichkeit gegeben, normal zum Unterricht zu gehen, was mein gutes Recht wäre, wenn ich diesen Krieg für ehrenvoll hielte.«
»Ist es denn kein ›Unterricht‹, über einen Krieg zu diskutieren, der das ganze Land aufwühlt?« fragte Angelica aufgeregter und schärfer, als es wünschenswert gewesen wäre.
»Also setzen wir die Frage, ob Kreon ein Tyrann ist oder nicht, auf die Tagesordnung«, sagte Kate ruhig, »ebenso die damit zusammenhängende Frage, wer der eigentliche ›Held‹ in Sophokles Drama ist, Kreon oder Antigone. Die Meinungen der Experten gehen hier, wie leider üblich, auseinander. Wir wissen, daß die Rolle der Antigone vom ersten Schauspieler gespielt wird und die des Kreon vom dritten, was ein Beispiel dafür ist, wie historisches Wissen die Dinge erhellen kann. Außerdem stirbt Antigone ungefähr in der Mitte des Stückes, ohne je ihr Schicksal in Frage gestellt zu haben; Kreon dagegen ist am Ende des Stückes allein, muß sein grausames Schicksal tragen, und es gelingt ihm, wie Betsy dargelegt hat, seine Einstellung zu ändern, wenn auch zu spät.
Einen Moment noch«, sagte Kate und hob die Hand, als mehrere Mädchen unterbrechen wollten. »Ich habe euch gesagt, ihr sollt mich unterbrechen, und jetzt lasse ich euch nicht; das ist typisch für ältere Lehrer, ich weiß. Aber wenn ich jetzt die Liste möglicher Gesprächsthemen komplett habe, verspreche ich euch, schwöre ich feierlich, daß ihr mich ab der nächsten Stunde unterbrechen dürft, ja daß ich vielleicht ab und zu ganz den Mund halte. Aber wir müssen den Semesterplan heute aufstellen, damit wir ein für allemal die technischen Dinge hinter uns haben. Kreon, Tyrann oder Held? ist ein Thema, ich würde vorschlagen… «
»Sollen wir Ihnen das wirklich abkaufen?« fragte Alice Kirkland. Wieder richteten sich fünf Augenpaare auf Alice Kirkland, diesmal kehrten sie fragend zu Kate zurück.
»Wenn es dir gelingt, diese Frage so zu stellen, daß wenigstens der Anschein von Höflichkeit gewahrt bleibt, werde ich darüber nachdenken.« Kate unterbrach die Stille nicht, die diesen Worten folgte.
»Ich meine«, sagte Alice Kirkland schließlich, »ob Sie vielleicht bereit sind, jedes Mal, wenn Sie länger als drei Minuten am Stück reden, einen bestimmten Beitrag, vielleicht einen Dirne oder so, in eine Kasse zu tun; am Ende des Schuljahres können wir dann eine Party machen.«
»Gut, drei Minuten, wenn ihr mir zusätzlich je fünf Minuten am Anfang und am Ende zur jeweiligen Themenstellung und Zusammenfassung zugesteht. Schließlich bin ich dafür verantwortlich, wenn wir auf die Nase fallen. Außerdem verdoppele ich den Betrag, der am Ende zusammengekommen ist, damit wir richtig schön feiern können. Willst du die Buchführung übernehmen, Elizabeth?«
»Ja, sicher. Aber ich finde den Vorschlag unverschämt, anmaßend und schlichtweg ungezogen. Warum belegt sie überhaupt das Seminar, wenn sie Ihnen nicht zuhören will?«
»Ich glaube, da bist du unfair«, sagte Kate. »Sie will ihre Gedanken erproben, was sie nicht kann, wenn sie immer meinen zuhört. Und da ich heute anmaßend und schlichtweg ungezogen bin, laßt mich jetzt mit meinen Themenvorschlägen für Referate und Diskussionen fortfahren. Hat jemand irgendwelche brillanten Vorschläge?«
»Warum mußte sie überhaupt ihren Bruder begraben?« fragte Irene Rexton. »Es war verboten, er hatte sein Land verraten, und was hat sie damit erreicht, daß sie eine Handvoll Staub auf seine vergammelte alte Leiche wirft?«
»Ach du lieber Himmel, laß uns bloß nicht damit anfangen«, sagte Freemond Oliver. »Das Begräbnis hatte für die Griechen eine andere Bedeutung als für uns, und damit basta. Man ließ die Toten nicht einfach verwesen. Das war göttliches Gebot und offenbar ein wichtiges, denn sonst wäre es Kreon ja gleichgültig
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