Schule für höhere Töchter
gewesen, ob die Leiche begraben wird oder nicht. Die Fakten stimmen in dem Stück, und außerdem ist das Thema ermüdend und langweilig.«
Kate wünschte sich zum ersten Mal in einer langen Kette ähnlicher Wünsche, daß die jungen Mädchen nicht so erbarmungslos miteinander umgingen. »Dieses Problem ist fast völlig aus dem Blickfeld verschwunden«, sagte sie zu Irene Rexton, »obwohl es Zeiten gegeben hat, zu denen heftig darüber gestritten wurde. Eine andere, noch nicht so oft durchgekaute Frage, die euch interessieren könnte, ist: Wie neuartig war Sophokles in seiner Bearbeitung des ›Antigone‹ - Stoffes? Er hat wohl als erster Haemon als Antigones Verlobten eingeführt, und Ismene, ihre Schwester, als Hintergrundfigur zu Antigone; außerdem hatte er die Idee, Tiresias einzuführen. Würde euch interessieren, was Euripides wohl aus der Geschichte gemacht hat in seinem verlorengegangenen Stück über Antigone oder Aischylos in seinem ›Sieben gegen Theben‹?«
»Mich würde interessieren, wie Anouilh den Stoff behandelt hat«, sagte Betsy Stark. »Ich persönlich kann Anouilh nicht ausstehen, aber es ist interessant, daß er ein Stück darüber geschrieben und Tiresias weggelassen hat und daß die Nazis ihn das Stück in Paris haben aufführen lassen. Das berührt wieder die Frage ›Ist Kreon ein Tyrann oder nicht‹; mal angenommen, die Nazis haben ihn das Stück inszenieren lassen, weil sie der Meinung waren, daß Kreon recht hatte und nicht Antigone, das Symbol für Frankreich.«
»Für das Freie Frankreich«, kommentierte Kate spontan, »im Gegensatz zur französischen Regierung, die mit Hitler ein Abkommen geschlossen hatte.« Sie hatte sich seit langem an die Tatsache gewöhnt, daß solche Ereignisse, die für sie Meilensteine der Zeitgeschichte waren, für Schüler, die erst zwölf oder mehr Jahre nach der Kapitulation Frankreichs geboren waren, alte Geschichte und ziemlich angestaubt zu sein schienen. »Eine gute Überlegung«, sagte sie zu Betsy. »Was mich immer wieder ungeheuer erstaunt hat an dem Stück ›Antigone‹, ist die Art, wie es Teil des griechischen Theaters geworden ist – dabei beruhte die ganze Geschichte von Antigone, die ihren Bruder entgegen Kreons Verbot bestattet, nicht einmal auf Überlieferung – und dann verschwindet dieser Stoff bis zum neunzehnten Jahrhundert völlig von der Bildfläche. Dann wird sie von einer Schriftstellerin, George Eliot, entdeckt, als Symbol ihrer Vorstellungen von Identität und Schicksal.«
»Das ist eine der Geschichten, die darauf warten müssen, daß eine Frau sie aufgreift«, sagte Angelica Jablon. »Antigone mußte eine Frau sein, damit Kreon sie verhöhnen kann. ›Schmachvolle Denkart, die dem Weib sich unterwirft‹ und so weiter. Nur eine Frau konnte Sklavin sein und trotzdem so viel Mut aufbringen wie Antigone.«
»Das ist mehr oder weniger die Interpretation von Virginia Woolf«, sagte Kate. »Könnte das ein Thema für euch sein?«
»Ich habe nichts dagegen, wenn Sie das wollen«, sagte Angelica, »aber für mich ist es wirklich eine Geschichte von Individuen im Kampf mit dem Establishment, dem militärisch-industriellen Komplex und all diesen Dingen.«
»Ich möchte das Frauenthema machen«, sagte Alice Kirkland. »Was halten Sie von einem Vergleich mit ›Lysistrata‹?«
»Ihr könnt vergleichen mit was ihr wollt. Das schadet nie«, sagte Kate, »solange ein solcher Vergleich nicht nur oberflächlich ist.«
»Es ist nicht einmal ein Vergleich«, sagte Betsy. »Das eine ist ein wirklich modernes Problem, das andere die alte, abgegriffene Tour – die einzige Waffe der Frau ist Sex, also benutzt sie ihn.«
»Einverstanden«, sagte Angelica. »Antigone steht für Humanität gegen die Willkür staatlicher Gesetze. Daß sie eine Frau ist, macht es ihr nur um so schwerer, sich gegen Kreon aufzulehnen. Aber sie setzt nicht ihre Sexualität ein, um ihren Bruder begraben zu können.«
»Sie benutzt ihre Sexualität, oder besser gesagt, ihr Sex bringt Haemon an ihre Seite«, sagte Elizabeth.
»Wäre Haemon wirklich ein chauvinistischer Mann wie Kreon«, sagte Betsy, »dann hätte er sich eher mit Ismene zusammengetan, die viel, entschuldigt den Begriff, ›weiblicher‹ ist.«
»Vielleicht können wir in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Tiresias erörtern«, sagte Kate.
»Er ist ganz sicher eine der wenigen wirklich androgynen Gestalten, die es gibt«, sagte Betsy, »vielleicht die einzige überhaupt.«
»Ich rede so
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