Schule für höhere Töchter
Sprache gegeben, obwohl natürlich jeder weiß, daß damals angelsächsisch oder etwas Ähnliches gesprochen worden wäre – ich drücke mich nicht besonders deutlich aus.«
»Ich verstehe vollkommen, was Sie meinen«, sagte Mrs. Johnson lachend und verzog im nächsten Moment das Gesicht zu einer Grimasse. »Oh je«, fügte sie hinzu, »es ist wie beim Heiligen Sebastian, der, als man ihn fragte, ob es wehtue, antwortete: nur wenn ich lache – Husten und Niesen tut natürlich mehr weh, aber darauf zu verzichten, fällt mir nicht so schwer. Die neueren Übersetzungen - Watling, Wyckoff, Townsend und so weiter sind sicherlich für Schauspieler einfacher zu sprechen und ermöglichen zweifellos eine Umsetzung in idiomatisches Englisch, um nicht zu sagen in Umgangssprache – trotzdem ziehe auch ich Jebb vor. Vielleicht nehmen wir es ›Antigone‹ ja sogar übel, wenn sie so up to date klingt?«
»Nun, als Sie zu dem Schluß gekommen sind, die ›Antigone‹ konnte überhaupt interessant sein, hatten Sie offensichtlich den Finger am Puls der Zeit, wie man so sagt. Die Mädchen sind so engagiert, daß sie doppelt so viel arbeiten, wie ich je auch nur im Traum von ihnen gefordert hätte; außerdem sind drei von ihnen in Mrs. Banisters Schauspielgruppe und arbeiten nun schon seit Wochen an Improvisationen über ›Antigone‹. Wie leicht diese uralten Geschichten doch zum Leben erwachen, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt.«
»Ich bin sicher, das ist zum größten Teil Ihr Verdienst«, sagte die loyale Mrs. Johnson. »Deshalb wollte ich auch nicht, daß einfach ein Altphilologe mein Seminar übernimmt – womit ich ganz gewiß nicht sagen will, es gäbe keine Altphilologen, die das könnten, aber die, die wir am Theban haben, sind, wie sich das gehört, an Sprachstrukturen und dem historischen Hintergrund griechischer Lebensformen interessiert.«
»Diesen Punkt möchte ich lieber nicht erörtern«, sagte Kate, »da ich festgestellt habe, daß meine Bescheidenheit fast immer für Unaufrichtigkeit gehalten wird, obgleich es in Wirklichkeit eine Menge Dinge gibt, derentwegen ich, wie Churchill über Attlee sagte, Grund habe, bescheiden zu sein. Es hat eigentlich nur eine Irritation in dem Seminar gegeben, einmal ganz am Anfang – eine wirklich dumme Geschichte, auf die ich jetzt nicht eingehen will – das Ergebnis war jedenfalls, daß ich allen Mädchen aufgab, ein Gedicht über einen der Nebenaspekte der ›Antigone‹ zu schreiben, nichts ungeheuer Tiefschürfendes und auch keine Anhäufung von Oxymora, verstehen Sie, einfach ein paar Verse. Ich dachte, ich lasse sie Ihnen da, um Sie in den langen Stunden, die Sie hier wie ein Paket verschnürt liegen müssen, ein bißchen aufzuheitern.«
»Sie haben mir Blumen und das ›Leben des Lytton Strachey‹ mitgebracht, da müssen Sie sich wirklich nicht für meine endlose Zeit verantwortlich fühlen, aber trotzdem danke für die nette Idee.« Sie überflog die Gedichte, wollte nur einen flüchtigen Blick darauf werfen und sie später eingehend lesen; dennoch hielt sie bei einem inne und las es gründlich.
»Das hier gefällt mir«, sagte sie, »obwohl ich schwer sagen könnte, warum. Sie hätte wenigstens reimen können, wie Horatio sich bei Hamlet beklagt.«
Kate sah auf das Blatt. »Oh ja, das ist Betsys. Darüber habe ich mich gefreut; sie hat viele gute Ideen, aber sie muß lernen, sich die Zeit zu nehmen, die richtigen Worte dafür zu finden und die entsprechende Reihenfolge. Vielleicht sollte sie sich überlegen, in lateinisch zu schreiben; da ist die Reihenfolge nicht so wichtig.« Sie las über Mrs. Johnsons Schulter hinweg das Gedicht noch einmal.
Erinnere dich, in griechischen Theaterstücken hatte Tiresias
einen Knaben, der ihn auf die Bühne führte –
Während aller Prophezeiungen, aller Visionen stand er und hoffte,
Odipus’ Zorn oder dem des Kreon zu entrinnen.
Ich möchte wissen – wo ist dieser Knabe?
Sagte er eines Tages zu Tiresias:
»Ich bin erwachsen und kann dich länger nicht geleiten?«
Ich denke, er wuchs zum Mann heran,
Wurde größer als Tiresias, vielleicht gar aufrechter
Und strebte nach Männlichkeit, oder dem, was er dafür hielt.
Ließ er die prophetische androgyne Weisheit hinter sich?
Oder blieb er, wie die Bühnenanweisung
vorschreibt, stets ein Knabe, der zu blinder Wahrheit führt?
»Das sieht Betsy ähnlich, daß sie über eine Figur schreibt, die nur eine Statistenrolle hat«, sagte Mrs. Johnson. »Ich
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