Schule versagt
stellvertretenden Direktor gemeinsam geplant hatte. Mehrere ernsthafte, wohl auch warnende Gespräche mit dem Direktor hatten ebenso wenig gefruchtet wie die erwähnten Projekte. Anders gesagt, man kurierte an Symptomen herum, ohne eine wirkliche Diagnose gestellt und die wahre Ursache der Krankheit behandelt zu haben. Die Einbindungsstrategie war noch im Gange, als ich den Politikunterricht in der Klasse übernahm. Die Verhaltensauffälligkeit von Herrn W. im Lehrerzimmer war mir nicht entgangen. Er war laut, bewusst vulgär, abschätzig und aufgesetzt gleichgültig. Mehr als eine Versetzung konnte ihm nicht passieren. Und auch davon schien er weit entfernt zu sein. Im Gegenteil, sein Verhalten bewirkte, was er offenbar wollte: Aufmerksamkeit. Dass er der Klassenlehrer der 11. war, wusste ich damals nicht.
Ich erfuhr nun sehr deutlich, wie viel wichtiger als die Verhaltensstrukturdie Motivationsstruktur ist. Ich behielt die Klasse das Schuljahr über. Wir arbeiteten von Woche zu Woche besser zusammen, aber es dauerte länger als üblich, ihr Vertrauen zu gewinnen und zu behalten. Die Schüler blieben zunächst in ihrer Grundhaltung misstrauisch, gaben mir aber die Chance, ihnen zu beweisen, dass ein Lehrer auch integer sein kann. Ich mochte sie, und das merkten sie. Nachdem wir fast ein halbes Jahr zusammengearbeitet hatten, passierte etwas, das mir zeigte, wie weit wir doch, allem Misstrauen zum Trotz, bereits mit der gegenseitigen Vertrauenswürdigkeit gekommen waren. Der Klassenraum lag abgelegen im obersten Stockwerk der Schule. Die ganze Schule hätte äußerlich dringend einer Sanierung bedurft. Die meisten Möbel und das sonstige Inventar waren alt und marode. Die Türklinke des Klassenraums der 11. wackelte und quietschte bei jeder Bewegung des Griffs. Das und all die anderen unschönen Begleiterscheinungen wie Wände, die dringend etwas Farbe gebraucht hätten, kaputte Fußböden und defekte Lampen, war für die meisten Kollegen schon selbstverständlich geworden. Sie kannten es nicht anders. Ich hatte andere Arbeitsumgebungen kennengelernt und jeden Morgen überkam mich das gleiche unbehagliche Gefühl, wenn ich in das Schulgebäude kam. Ich fragte mich, wie hier jemand gern hingehen und mit Freude an seine Arbeit gehen sollte.
Eines Tages also, als unsere gemeinsame Unterrichtsstunde beendet war und die ersten Schüler den Raum verlassen wollten, hatten sie die Klinke in der Hand. Sie ließ sich nicht mehr anbringen, fiel immer wieder ab. »Oh«, sagte Sina erschrocken, »wir sind hier gefangen!« Wir versuchten ein paarmal gemeinsam, die Klinke wieder anzubringen und die Tür zu öffnen – vergeblich. An die Tür zu klopfen nützte nichts; wir waren hier oben allein nach dem Ende der sechsten Stunde. Keiner hatte ein Handy parat (immerhin liegt der Vorfall mehr als zehn Jahre zurück), um den Hausmeister anzurufen. Ich öffnete ein Fenster und schaute hinaus: Niemand war auf dem Schulhof zu sehen. »Ich warte, bis jemand da unten ist«, sagte ich, »und dann rufen wir. Oder hat noch jemand eine bessere Idee?« Zögerlich sagte Kevin: »Der hat ein Taschenmesser dabei«, und zeigte auf seinen Nebenmann. Ulf schaute mich unsicher an. Taschenmesser waren nicht erlaubt.»Zeigen Sie doch mal«, sagte ich, »vielleicht kann man damit was anfangen.« An dem Taschenmesser befanden sich zahlreiche Instrumente wie Korkenzieher, Kronkorkenöffner, Nagelfeile usw. »Versuchen Sie’s!«, sagte ich freundlich und auffordernd. Ulf erwies sich als handwerklich sehr geschickt. Er stocherte mit einigen der Instrumente im Schloss herum, fand schließlich einen Ansatzpunkt und drehte so lange, bis sich der Mechanismus bewegte und die Tür aufsprang. Seine erleichterten Mitschüler jubelten und feierten ihn. Der Abschied an diesem Tag war herzlich. Wir waren eingesperrt gewesen und keiner war nervös oder gar aggressiv geworden. Und ausgerechnet derjenige, der etwas Verbotenes in die Schule mitgebracht hatte, löste das Problem …
Letztlich war Herr W. auch mit der gut gemeinten Einbindungsstrategie nicht mehr zu halten. Eltern hatten sich beschwert, schließlich gemeinsam, und übten Druck auf den Direktor aus. Der Direktor, ein netter, disziplinierter Kollege der alten Schule, hatte es mit seinem Versuch gut gemeint. Er war wohl tatsächlich der Überzeugung, hier etwas retten zu können, indem er Herrn W. die produktiven Seiten seines Berufes ins Bewusstsein rufen wollte. Auch der stellvertretende Direktor
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