Schule versagt
das mit sehr viel Eigeninitiative auch zeigen. Ihnen ist ein Kollege mit mangelnder Kompetenz nicht gewachsen. Sie überfordern ihn. Ich habe erlebt, dass in diesen Fällen die Reizbarkeit steigt und die Frustrationsschwelle sinkt. Mein Sohn hat sehr unter der Inkompetenz vieler seiner Lehrer gelitten. Seine Fragen wurden nicht, falsch oder nur höchst unzureichend beantwortet, seine Initiativen nicht nur nicht gefördert, sondern verhindert. Das Ausbrechen aus den gewohnten Strukturen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses – Lehrer hat das Wissen qua Status, Schüler lernt von ihm, ohne zu hinterfragen – hatte Folgen. Nun offenbarten sich Unsicherheit und Ratlosigkeit so deutlich, dass der tiefenpsychologische Ausweg aus dieser Krise oft Projektion hieß. Manprojizierte Motive in den Schüler hinein, die er niemals hatte, z. B. den Wunsch zu verunsichern, das Bedürfnis »aufzumischen«, überhaupt einen »unangenehmen Charakter«. Als Mutter mit diesen Erfahrungen konfrontiert, fragte ich mich, wie diese Kollegen junge Menschen zur Hochschul
reife
führen wollten, wenn sie selbst keine Reife besaßen. Das Eingestehen der eigenen Unzulänglichkeit blieb die Ausnahme. Der einzig gangbare Weg in dieser Misere, sich die Kompetenz anzueignen, schien außerhalb jeder Vorstellung zu liegen. Stattdessen hielt man den eigenen Status und das Rollenverständnis wie ein Schutzschild vor die entblößte Brust. In unseren Schulen leiden unter den inkompetenten Kollegen gerade die Schüler, die am leichtesten zu fördern und zu fordern sind: diejenigen, die von Charakter, Lebens- und Arbeitsauffassung her zu den Wissbegierigen gehören, zur Gruppe der Neugierigen, der Kreativen und Schöpferischen.
Diese Erfahrungen aus der Praxis als Mutter und Lehrerin zeigen, dass Kompetenz nicht allein eine Frage des Wissensstandes ist. Eine hohe Performanz ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Lernprozesses, aber sie ersetzt nicht die Kompetenz. Performanz ist Wissen, z. B. um Geschichtszahlen, die diese oder jene wichtigen Ereignisse markieren. Ich habe Kollegen erlebt, die in dieser Hinsicht alles wussten, aber wenig begriffen hatten. Kausale Zusammenhänge, gesellschaftliche und politische Hintergründe, die Bedeutung biografischer Faktoren, theoretische und ideengeschichtliche Einflüsse blieben unberücksichtigt bei der Behandlung eines historischen Themas oder eines literarischen Werkes. Man lieferte keine Analyse, sondern eine Beschreibung; und auch auf dieser rein deskriptiven Ebene fehlten wichtige Indikatoren, die den Problemzusammenhang zumindest ansatzweise verdeutlicht hätten. Kompetente Lehrer haben nicht nur ein umfangreiches Wissen, das sie ständig evaluieren und verbessern sollten, sondern auch die Fähigkeit zur Analyse. Sie denken ganzheitlich, vernetzt und kausal. Sie versuchen ein wie auch immer geartetes Problem vollkommen zu durchdringen. Das setzt Klugheit und disziplinierte Arbeit voraus.
Diese Arbeit beschränkt sich nicht auf den fachlichen Bereich. Ein Meister seines Fachs ist noch kein Mentor. Kompetenz und Charakter bedingen einander. Statt sich mit eigenen Defiziten zukonfrontieren und proaktiv auseinanderzusetzen, wird der Weg der Projektion gewählt, der den Schüler in negativer Weise zum »Täter« stilisiert und einen selbst zum Opfer. Das zeugt nicht nur von fehlender Reife, sondern von Unsicherheit und mangelnder Integrität. Charakter bezeichnet, wer man wirklich ist; Kompetenz bezeichnet, was man kann. Beides zusammen taugt zum Vorbild, wenn man es ständig hinterfragt, verbessert und pflegt. Ich habe einige Kollegen kennengelernt, die in diese Richtung dachten und teilweise auch handelten. Meine Mentorin im Referendariat, Frau K., war eine integre Persönlichkeit und besaß eine hohe Kompetenz, die sie nicht nur zeigte, sondern auch durch konzentriertes und gleichzeitig entspanntes Arbeiten vermittelte. Frau P., die neue Klassenleiterin der von Herrn W. gebeutelten 11. Klasse, hatte dieselbe Ausstrahlung, und gleich zu Beginn des Referendariats hatte ich in den Hospitationen bei Frau A. gelernt, wie effektiv die Kombination von Charakter und Kompetenz wirkt. Die tägliche Schulwirklichkeit aber kennt, abgesehen von den Negativbeispielen, vor allen Dingen Mittelmäßigkeit. Das ist der Social-Mirror-Effekt der Lehrerausbildung und -sozialisation.
Wie bringt man Schüler dazu, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen? Wie motiviert man sie dazu, ihre Hausaufgaben zu
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