Schule versagt
Tucholsky
Lehrer sind merkwürdige Wesen. Sie leben auf einer Insel, die Schule heißt. Oft ein ganzes Leben lang. Wenn die Insel einmal gewechselt wird und man zur nächsten zieht, ist das schon viel. Meistens richtet man sich ein. Diese Parallelwelt ist eine von vielen. So wie die Vorstände großer Unternehmen nicht mehr wissen, wie man eine U-Bahn -Karte löst, so wissen Lehrer nicht oder doch nur in den seltensten Fällen, wie Berufsleben außerhalb von Schule aussieht. Schule-Studium-Schule ist eine Kombination, die eingleisig und unflexibel ist, keine Horizonte eröffnet und träge macht. Dazu kommt die Unkündbarkeit der Beamten schon in jungen Jahren; Angestellte im öffentlichen Dienst müssen sich immerhin erst 15 Jahre bewähren, bevor sie dieses Privileg genießen können 1 . In den USA wurde unser Sohn von einer Journalistin im Fach Journalism unterrichtet, von einer Produzentin in Video Production, von einem ehemaligen Coach in Sport. Dort gibt es keine Lehrerausbildung in unserem Sinne, kein Referendariat. Man kann jederzeit aus seiner Berufspraxis in den Schuldienst wechseln. Das Gute daran war, dass diese Lehrer bereits alle in einem Arbeitsverhältnis gewesen waren, in dem sie nicht nur mit Schülern zusammengearbeitet hatten. Sie kannten Konstellationen, die den meisten unserer Lehrer fremd bleiben: Synergetische Teamarbeit mit Kollegen auf ein gemeinsames Ziel hin; Kommunikation und Konflikte mit erwachsenen Menschen, nicht nur mit potenziell unterlegenen Schülern; Arbeitshierarchien; leistungs-, krankheits-, betriebs-, verhaltensbedingte Kündbarkeit; Überstunden; unmittelbare Abhängigkeit von Vorgesetzten; Leistungsdruck; Arbeitsergebnisse abliefern unter Zeitdruck; Konkurrenzkämpfe um Positionen; Statusverlust; leistungsbedingte Gehälter und Aufstiegschancen; Kurzarbeit. Das erlebt man in der Schule bestenfalls in stark abgemilderter Form oder gar nicht. Was ich auf dieser Insel erlebte, übertraf meine kühnsten Vorstellungen.
Als ich in die Parallelwelt kam, war ich das, was man eine ausgebildete Lehrerin nennt. Ich ließ mich an den Schulen zunächst mit Semesterverträgen einstellen. So konnte ich wechseln, wenn es mir nicht mehr gefiel. Aber ich war jetzt eine »vollwertige Lehrkraft«, die Kollegen erlebten mich aus veränderter Perspektive. Ich war keine Lernende mehr, sondern wurde als gleichwertig wahrgenommen. Und das bedeutete auch: als Konkurrentin. An einer meiner Schulen war der Doktortitel einigen Damen, die bereits seit längerer Zeit dort unterrichteten, suspekt. Ich fragte mich, ob sie in ihren 20-, 25- oder 3 0-jährigen Dienstzeiten niemals eine promovierte Frau zu Gesicht bekommen hatten. Das konnte nicht sein. Es gab Promovierte an der Schule. Allerdings hörte ich Äußerungen wie: »Frauen haben keinen Doktor!« Eine sehr nette, kluge Kollegin, die gut an einer Hochschule hätte unterrichten können, war eine Ausnahme. Frau C. nahm mich herzlich auf, wir freundeten uns an und arbeiteten zusammen. Die ignorante, zurückhaltende, ablehnende oder misstrauische Haltung anderer Fachkolleginnen war augenfällig. Ich beobachtete das interessiert und fand nach einiger Zeit das Motiv hinter diesem Verhalten: Angst vor »Konkurrenz«. Ich konnte es nicht glauben. Aber die nette Kollegin bestätigte es mir. Meiner Intention für die »Erfahrung Schule« gemäß war es mir nie in den Sinn gekommen, hier aufsteigen zu wollen. Es gibt dort eine, wenn auch kleine Hierarchie. Die meisten Kollegen bleiben ihr Leben lang Studienräte, denn es gibt den früher normalen Bewährungsaufstieg nicht mehr. Jetzt muss man eine Funktionsstelle besetzen, um aufzusteigen, z. B. Fachleiter werden oder Fachbereichsleiter. In einigen Schulen gibt es pädagogische Koordinatoren für Mittel- und Oberstufe, und schließlich, an der Spitze der Hierarchie, Direktor und stellvertretenden Direktor. Man unterstellte Ambitionen, die ich gar nicht hatte. Ich erfüllte keine der Grundvoraussetzungen für den Aufstieg in der Schule. Weder war ich verbeamtet noch Studienrätin, und ich hatte nicht vor, daran etwas zu ändern. Aber man tat sich in Mittelmaßsolidarität zusammen, um zu verhindern, wo nichts zu verhindern war.
Das Interessante daran war, dass die Aufstiegs- und Konkurrenzunterstellungen nie ausgesprochen wurden. Der Argwohn äußerte sich anders. Und noch eines kam in meinem Fall erschwerendhinzu: die Konkurrenz als Frau. Damit hatte ich noch weniger gerechnet als mit der
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