Schule versagt
Sinne eines aktiven, selbst verantworteten Lebens löst die unterschiedlichsten Fluchtmechanismen aus. Auch deshalb war es immer eine wunderbare Erfahrung, wenn – bewusst oder unbewusst – Einsicht einsetzte. Wenn es doch noch gelang, diese inneren Kräfte zur Entfaltung zu bringen.
Wie sind Schüler geschult und beschult, wenn sie in der Oberstufenschule ankommen? Für Lehrer ist das nicht nur eine interessante, sondern eine entscheidende Frage. Die Elftklässler rekrutierten sich aus Realschulen, sehr wenige aus Gesamtschulen und Gymnasien. Ich konnte immer ziemlich genau erkennen, wer im Gymnasium sozialisiert war. Diese Schüler waren »intellektueller«; sie hatten Begriffe wie Analyse und kausaler Zusammenhang zumindest schon einmal gehört oder sie dachten bereits in diesen Kategorien der Kompetenz.
Das Gros der Schüler hatte deskriptives Wissen, bewegte sichalso im reinen Performanzbereich. Auffällig ist, dass das Wissensniveau im Laufe meines Beobachtungszeitraums, also von zehn Jahren, abnahm. Tatsächlich wurden die Schüler in ihren Eingangsleistungen immer schlechter. Diese Beobachtung machten viele Kollegen in ihren Fächern. Besonders schlecht war das sprachliche Niveau. Bis zu 90 Prozent einer Klasse mussten wir in den sprachintensiven Fächern wie Deutsch und Politische Wissenschaft eine Fünf oder eine Sechs in Sprachrichtigkeit geben. Ich hörte nach meiner Zeit in der Schule, dass die Einrichtung von Pflicht-AGs erwogen werde, um dem Problem angemessen zu begegnen, das wir in dieser Form in der Sekundarstufe II gar nicht haben dürften. Der Lehrplan sieht die Vorbereitung der Schüler auf ein Studium vor mit den entsprechenden Themen- und Lernzielvorgaben. Die Realität stellt sich so dar, dass 90 Prozent der Schüler Worte falsch schreiben, die Zeichensetzung kaum beherrschen. Die deutsche Grammatik ist nur allzu oft ein Buch mit sieben Siegeln. Hinzu kommen die Mängel in der Fähigkeit zu strukturieren, d. h. einen Text sinnvoll zu gliedern und verständlich zu formulieren. Die Klausuren, die man in den genannten Fächern korrigieren muss, sind häufig eine Zumutung. Selbst wenn wir konzedieren, dass wir in der Sekundarstufe II bei der Analysefähigkeit und dem Begreifen kausaler Zusammenhänge bei null beginnen müssen, so können es Sekundarstufe I I-Schulen nicht leisten, den Schülern, die alle die Mittlere Reife in der Tasche haben, egal wo sie erworben wurde, elementare Sprachregeln beizubringen. Das ist eine Aufgabe der Unter- und Mittelstufe. Und sie wird nach meiner Erfahrung immer weniger geleistet.
Woran liegt das? Ich habe nie selbst in einer Realschule unterrichtet, weiß aber aus meiner Zeit an Gymnasien, dass dort in den Klassen der Mittelstufe (7 bis 10) Grammatik auf dem Lehrplan steht. Aus Gesprächen mit meinen Schülern erfuhr ich einiges aus ihrem früheren Schulalltag. Die Mehrheit dachte nicht gern an die Zeit in dieser Schule zurück. Es sei »chaotisch« gewesen, sagten viele. Ich wusste nicht so recht, was ich mir darunter vorstellen sollte. Eine nicht zu bändigende Schülerschar und hilflose Lehrer, denen es nicht gelang, so etwas Ähnliches wie Unterricht durchzuführen? »Ja, so ungefähr«, lautete die Antwort. »Wie genau war es?« »Manche Lehrerinnen gingen weinend aus dem Unterricht.«»Manche Lehrer kamen einfach nicht.« »Wir haben nichts gelernt.« »Die Stunden waren so chaotisch. Es war laut, keiner hat zugehört.« »Wir mussten immer nur mitschreiben.« Viele meiner Schüler winkten einfach nur ab, wenn ich sie auf ihre alte Schule ansprach.
Wenn die Aussagen stimmten und die Körpersprache authentisch war, musste man sich nicht wundern. Was ich sicher weiß, ist, dass Schüler, die in der Sekundarstufe II ankommen, in den allermeisten Fällen wissensmäßig aufholen müssen. Die wenigsten schaffen es, die Anforderungen, die dort eigentlich gestellt werden müssten, zu erfüllen. Und das nur auf das reine Wissensniveau bezogen. Kompetenz, eigenständiges Erarbeiten, vernetztes Denken, Transferleistungen – das sind Lernziele, die vollkommen neu vermittelt werden müssen.
Ein Beispiel (von vielen) aus dem Fach PW, das das Problem verdeutlicht, ist der Ablauf einer Phase der Unterrichtseinheit »Demokratie in Theorie und Praxis«. Etwa in der Mitte des ersten Schulhalbjahres in der 11. Klasse weiß niemand, bis auf einen Schüler, wie »Gewaltenteilung« definiert wird. Dieser eine hat schon mal »irgendwie« davon
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