Schule versagt
Freundin Frau R. »Oh, dann haben wir wohl vergessen, Sie zu informieren …«, lautete die Antwort von Frau R. auf meine Frage nach den Gründen der Ausgrenzung.
Nach der Korrektur der Prüfungsklausuren hatte es sich ergeben,dass einige Schüler mündlich geprüft werden mussten oder wollten. Für mich war das selbstverständlich; so war es an den anderen Schulen, in denen ich unterrichtet hatte, auch gewesen. Als die Termine bekannt gegeben wurden und ersichtlich wurde, dass es im Fach Deutsch mündliche Prüfungen geben würde, sprach mich Frau D. mit scharfer Stimme an: »Sie prüfen mündlich?! Das wird hier nicht gern gesehen!«
Ich kannte sie inzwischen gut genug, um ihr Angstmotiv hinter dem aggressiven Ton zu erkennen, und auch in ihren Augen stand, neben Abneigung und Ablehnung, die blanke Angst. Offenbar hatte ich eine Art Todsünde begangen. Und tatsächlich, meine nette Kollegin, Frau C., bestätigte es mir: Noch nie hatte es, so weit sie sich erinnern konnte, im Fach Deutsch eine mündliche Prüfung gegeben. »Wie ist das möglich?«, fragte ich, »das geht doch gar nicht. Eine Prüfung ist vorgeschrieben, wenn die Klausur besser ausfällt als die Vornote.« »Ich weiß«, erwiderte sie. »Aber es wird so korrigiert, dass dieser Fall nicht eintritt.« Das war ungeheuerlich. Wenn Schüler Klausuren schrieben, die besser waren als die Vornote, dann mussten sie ihre Chance bekommen. »Und warum?«, fragte ich. »Was spricht dagegen zu prüfen? Einige meiner Schüler wollen geprüft werden.« »Frau D. hat Angst. Deshalb prüft sie nicht. Und du darfst jetzt nicht einführen, was sie die letzten 20 Jahre verhindert hat. Mit Frau R. ist sie sich da einig, wen wundert ’s.« Ich ließ mich nicht beirren, hielt meine Prüfungen ab und hatte eine Anzahl interessierter Kollegen dabei, die diese Premiere miterleben wollten. »Eine Prüfung in Deutsch – das haben wir ja noch nie erlebt.« So oder so ähnlich klangen die Kommentare.
Übrigens kam Frau D. ein Jahr später ebenfalls zu einer mündlichen Prüfung, der ersten seit ihrer Einstellung. Sie kam dazu wie die Jungfrau zum Kinde. Eine Schülerin wollte unbedingt auf eine Zwei geprüft werden, und alles Zureden ihrer Lehrerin, sich doch mit der Drei zufriedenzugeben, half nichts. Die Prüfung sollte stattfinden, auf Wunsch der Schülerin. Frau C. erzählte mir, Frau D. habe schlaflose Nächte gehabt, überlegt, auf welche Weise sie die Prüfung noch abwenden könne, habe versucht, sie abzublasen – alles vergeblich. Frau C.s Bericht zufolge, die bei dieser Prüfung Protokoll führen musste, war es ein Abfragen rein deskriptiverArt, von Analyse keine Spur. Als Frau C. das aussprach, war die nach dieser für sie so außerordentlich schweren Prüfung total erleichterte Frau D. beleidigt. Der Direktor, der Frau C. nicht mochte, gratulierte überschwänglich zu der hervorragenden Prüfung. Er verstand nicht das Geringste davon, unterrichtete naturwissenschaftliche Fächer und war nicht gerade ein Kenner analytischer Fragestellungen zur deutschen Literatur. Ich war wieder um eine Erfahrung reicher. Mein Eindruck von der Parallelwelt, in der man es versteht, das wirkliche Leben herauszuhalten, verdichtete sich immer mehr.
Dass Mobbing auch an Schulen vorkommt, wusste ich. Aber die Realität, meine Realität in der Schule, war doch noch mal etwas anderes. Sie bestand jahrelang auch darin, Intrigen auszuhalten und gestellte Fallen zu umgehen. Als ich eines Tages eine Vertretung für meine Kollegin D. übernehmen musste, baten mich die Schüler nach der vierten Stunde, sie nach Hause gehen zu lassen. Die fünfte Stunde falle aus, das habe ihnen Frau D. gestern mitgeteilt und ihnen erlaubt, früher zu gehen. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl bei der Sache. Aber es gab keinen Grund, den Schülern zu misstrauen oder sie gar in die Probleme, die meine Kollegin mit mir hatte, einzubeziehen. Am Nachmittag des Folgetages bestätigte sich mein ungutes Gefühl: Kollegin D. rief mich zu Hause an und warf mir vor, die Schüler einfach nach Hause geschickt zu haben. Wäre es so gewesen, hätte ich meine Kompetenzen überschritten, denn derartige Entscheidungen können nur Direktor oder Fachbereichsleiter in Absprache mit dem Klassenleiter treffen. Vielleicht hatte ich irgendeine Art von Gemeinheit erwartet, jedenfalls reagierte ich spontan auf diesen Anwurf, indem ich sachlich erwiderte: »Ich nicht. Sie haben sie nach Hause geschickt.« Das nachfolgende
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