Schule versagt
wäre besser, wenn Raphael EVA bei den Schülern etabliert«, erwiderte ich, »er ist der Klassenlehrer und wird am meisten mit seinen Schülern zu tun haben. Zu ihm werden sie gehen, wenn Probleme auftreten, und dann ist es gut für sie zu wissen, dass er voll hinter EVA steht.« Raphael nickte zwar, sagte: »Ich stehe ja auch hinter EVA …«, aber so richtig ran wollte er nicht an den Vortrag und schließlich blieb die Einführung von EVA an mir hängen. »If you want to learn it: teach it!«, dachte ich. Das galt sicher auch für EVA, und es war nur gut für mich, wenn ich mir das Konzept und die Hintergründe desProjekts vor Beginn der Learning-by-Doing-Woche noch einmal verdeutlichte.
Inzwischen waren eineinhalb Stunden vergangen und wir erkannten langsam, dass uns die Vorbereitung der Woche doch viel mehr Zeit kosten würde, als wir gedacht hatten. Aber bei diesem ersten Mal und noch einige Male in den Jahren danach machte das den Kollegen nichts aus. So groß war die Motivation, etwas Neues zu wagen, aus dem Alltagstrott, an dem viele ein unbestimmtes Unbehagen hatten, herauszukommen. Ich fand das damals außerordentlich angenehm. Die Euphorie blieb auch in der zweiten und dritten angefangenen Stunde, und als wir uns schließlich vertagten auf einen zweiten Termin noch vor den großen Ferien, waren alle sofort einverstanden. Bis dahin hatten wir immerhin den Wochenzeitplan erstellt und den Montag durchgeplant: Begrüßung durch Raphael, Kennenlernspiel, EV A-Einführungs vortrag , Vorstellung des Wochen-Zeitplans und Gruppenvortrag. Dafür sollte jeder Schüler aus vielen Bildern eines auswählen, das ihm besonders gut gefiel und in zufällig per Losverfahren zusammengesetzten Fünfergruppen aus den jeweiligen Bildern, die nun ebenso zufällig zusammengewürfelt worden waren, eine in sich zusammenhängende Geschichte machen. Nach dem Vortrag der Geschichten die »Schulentdeckung«, mit deren Hilfe die Schüler spielerisch und auf spannende Art die Schulräumlichkeiten und -regeln erkunden sollten. Das war die Idee der außer mir einzigen weiblichen Besetzung der EV A-Gruppe . Sie saß mir gegenüber, schaute mich ab und zu sogar an und taute im Lauf der EV A-Konferenzen ein bisschen auf. Sie war für mich Ilse; alle Kollegen hatten sich auf das »Du« als Anrede festgelegt. Es hatte sich ergeben als die einfachere Form, miteinander zu arbeiten. Die meisten Kollegen waren auch vorher schon per Du gewesen. Sie kannten sich schon sehr lange; manche waren zwanzig Jahre und mehr an dieser Schule. Ich versuchte mir das vorzustellen und schaffte es nicht. Drei Jahre pro Schülerjahrgang – das machte sechs bis sieben Generationen, die alle durch ihre Hände gegangen waren. Sie kannten hier alles in- und auswendig. War es das, was sie bewog mitzumachen: doch einmal, wenn auch in vertrautem Rahmen, etwas Neues zu wagen, weil nach zwanzig oder mehr Jahren selbst der eingefleischteste Routinier den Trott nichtmehr erträgt? Aber da war die Mehrheit der Kollegen, die eben nicht mitmachte, und unter diesen waren einige, die ebenso lange an der Schule waren. Eines stand fest: Es waren die Aufgeschlossensten im Kollegium, die EVA trugen. Aber warum waren sie »aufgeschlossen« und andere nicht? Und: Was waren die Motive hinter dem Verhalten?
Die Einteilung in die drei Phasen mit drei Pausen sollte die ganze Woche über beibehalten werden. Die folgenden Tage sollten jeweils im Ganzen einem EV A-Thema gewidmet sein. Die Kollegen hatten sich nach dem ersten Treffen verpflichtet, ihre Hausaufgaben zu machen, also jeweils zu zweit oder zu dritt einen Tag vorzubereiten. Den Methodentag hatten Herb und Carlo übernommen. Es waren Übungen zum Markieren von Texten am Vormittag, die Erarbeitung von Markierungsregeln in der zweiten Phase und am Nachmittag eine Mindmapping-Übung 7 , die Spezialität von Carlo, vorgesehen. Herb hatte sich in bekannter Manier ausführlich schriftlich vorbereitet und sehr viel Mühe damit gemacht. Mit Sicherheit hatte ihn das Zeit gekostet und das jetzt, in der Endphase des Schuljahres, mit der Häufung von Versetzungskonferenzen und Prüfungen. Ich war immer schon beeindruckt von Menschen, die so akribisch genau auf- und mitschreiben. Neben der aufgewendeten Zeit mussten sie alles, was besprochen worden war, noch einmal durchdenken, zu Papier bringen, kopieren und auf alle Fächer verteilen. Ich bereitete mich zwar immer vor (in der gesamten Zeit, in der ich ergründete, was Schule im
Weitere Kostenlose Bücher