Schule versagt
Mein anfänglicher Optimismus wich zusehends einem nüchternen Realismus. Wie sollte aus Arbeitselementen wie dem Aufstellen eines Regelkatalogs für diese Woche – Grundsatz: Eindeutige und klare Regeln erleichtern die Orientierung in der Schule. Die Regeln werden jedem Schüler ausgehändigt und durch seine Unterschrift anerkannt –EVA werden?Beim Verfassen des Manuskripts für dieses Buch las ich das Papier noch ein paarmal; mir wurde nicht besser dabei, als ich mich damals gefühlt hatte. An den Rand hatte ich geschrieben: »Je größer die Eigenverantwortlichkeit, desto weniger Regeln benötigt man!« Ich sehe das heute mehr denn je so, aber damals saß ich in der Runde der Kollegen und hatte das Gefühl, erklären zu müssen, was eigentlich hätte klar sein müssen. Wir saßen hier, um EVA zu realisieren – und dieses Papier forderte gleich zu Beginn die strenge Ausrichtung an Vorgaben, Kontrollen und einen Sanktionskatalog für den Fall der Nichteinhaltung dieser Regeln. Auch diese Negativsanktionen sollten mit den Schülern zusammen erstellt werden nach dem Grundsatz: Konsequent gegen den Schlendrian angehen! Und wieder sollten die Schüler unterschreiben. Es war schwieriger, als ich erwartet hatte. Die Diskussion zog sich entsprechend in die Länge. Ich versuchte noch einmal deutlich zu machen, was EVA wirklich bedeutete, und dass das Konzept aus meiner Sicht Begriffe wie Kontrolle ausschloss, dafür auf Einsicht und Verantwortung setzte. Bei den zwei PSE-geschulten Kollegen stieß ich auf Zustimmung, aus welchem Grund auch immer. Es war mir jetzt auch egal. Die Hauptsache war, dass das Papier von Herb wirklich nicht mehr als eine Diskussionsgrundlage sein würde. Auch Fachbereichsleiter Carlo war anderer Meinung. Ich war wieder einmal froh, in der Schule, in der man so großen Wert auf den »Dienstweg« legt, einen Fachbereichsleiter zu haben, der EVA offenbar nicht nur unterstützte, sondern auch verstanden zu haben schien.
Raphael, der die neue Klasse als Klassenleiter übernehmen sollte, schlug vor, dass er, nachdem unser Direktor alle neuen elften Klassen begrüßt hatte, mit den Schülern gemeinsam in den gewählten Raum kommen und ihnen die Einführungsphase vorstellen wolle. »Gleich zu Beginn?«, sagte Hans, »dann werden die gleich erschlagen mit den ganzen Fakten, PISA usw. Wir sollten uns erst einmal kennenlernen.« Er schlug das »Kofferspiel« als geeigneten Einstieg vor. Jeder Schüler und jeder Lehrer stelle sich mit seinem Namen vor und packe ein Teil in seinen imaginären Urlaubskoffer, dessen Anfangsbuchstabe mit dem seines Namens identisch sei. So könne man das eingepackte Urlaubsutensil leicht mit dem Namen verbinden und sich denselben auch merken. Jederin der Runde musste sich im Lauf des Spiels zweimal die Namen von 30 Schülern, allen Lehrern, die an diesem Tag anwesend sein würden, und jedes eingepackte Utensil merken und laut sagen. Als sie das hörten, schauten ein paar Kollegen doch ängstlich drein und gaben zu, Angst vor der Blamage zu haben, wenn sie sich die Namen nicht merken könnten und dies auf so eindeutige Weise öffentlich werde.
Ich fand die Idee gut, weil das gegenseitige Kennenlernen immer mindestens eine Woche gedauert hatte und mehr oder weniger zufällig oder willkürlich verlaufen war. Man merkte sich den Namen dessen, der einem, wenn vielleicht auch unbewusst, gefiel und ignorierte andere. Auf diese Weise waren ebenso unbewusst die ersten gruppendynamischen Prozesse intendiert worden, die sich von vornherein negativ auf die Kommunikation innerhalb der Gruppe ausgewirkt hatten. Manche waren nur schwer zu revidieren gewesen. Als ich meine Recherche in der Schule begann, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass solche auf den ersten Augenschein hin banalen Dinge so gravierende Auswirkungen haben könnten und vor allem so nachhaltig wirkten. Würde das Kennenlernspiel daran etwas ändern?
»Dann müssen wir den Schülern die Einführungstage vorstellen«, erinnerte Raphael an seine Rolle als Klassenleiter. Erst als niemand widersprach, sagte ich: »Wir sollten nicht nur die Learning-by-Doing-Woche darstellen, ihren Ablauf und ihren Sinn, sondern EVA als Ganzes. Und es muss klar werden, dass die Learning-by-Doing-Woche ein Teil von EVA ist.« Carlo nickte; die Kollegen schauten mich an und einer sagte: »Das musst du machen.« Selbst Raphael, dem ich als Klassenleiter gern den Vortritt gelassen hätte, schien dieser Meinung zu sein. »Es
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