Schule versagt
auch nach all den Erfahrungen und all den Jahren. Übrigens gab es später in seiner Klasse mindestens ebenso viele Fehlzeiten, auch unentschuldigte, wie in den Klassen zuvor oder danach. Nur in meiner Klasse hatte sich das anfängliche Problem gelöst – allerdings nicht durch Übungen wie »Ein Schüler fehlt so und so lange. Wann und wie muss er sich entschuldigen?« u. ä., und auch nicht durch Schülerunterschriften unter Vereinbarungen. Herb hatte sich die Mühe gemacht, verzwickte Fälle zu konstruieren, bei denen ein Schüler über das Wochenende hinweg krank war, volljährig, jedoch nicht in der Lage sich zu melden, da schwer erkrankt. Ein schwieriger Fall für die Schüler. Sicher würden sie hoch motiviert sein, solch eine Problematik im Vorfeld des Unterrichts zu durchdringen.
Parallel dazu hatte sich die Atmosphäre verändert. Die Häufigkeit der Treffen nahm ab. Sven ließ sich seltener, am Ende gar nicht mehr sehen. Bernd fühlte sich zu alt und, nach einem gescheiterten Versuch eine Klasse zu leiten, auch nicht mehr motiviert. Für Herb, der schwer erkrankt war, war ein neuer Kollege dazugekommen, dem alle Diskussionen zu viel waren. Mit dem Seufzer »Hier wird schon wieder diskutiert!« verließ er den Raum und kam erst nach geraumer Zeit zurück, als er annahm, die »Diskussion« sei jetzt beendet. Er zeigte sehr deutlich sein Missfallen an jeder Form des Hinterfragens. Für ihn sollte es Regeln geben, klar und von außen gesetzt, darüber diskutierte man nicht, sondern man hielt sie ein – oder auch nicht, dann musste es eben Sanktionen geben. Schon seine bloße Anwesenheit veränderte die Atmosphäre. Es war eine dürftige Strenge, die ich spürte, verborgen hinter aufgesetzter Arroganz, Unsicherheit und Bequemlichkeit. EVA und dieser Kollege passten nicht zusammen, aber er blieb.
Die Learning-by-Doing-Woche starb an einem Tag kurz vor den Sommerferien. Es war schon schwierig gewesen, überhaupt ein Treffen zustande zu bringen. Schließlich saßen Ilse, Gerd (der neue so diskussionsunwillige Kollege), Carlo, Sebastian (zum ersten Mal), Raphael und ich um den Tisch des Lehrerzimmersherum. Bernd war in Pension, Hans und Sven waren nicht gekommen. Herb, wieder genesen und dünner und blasser als zuvor, gesellte sich zu uns. Im Flur schon war mir Ilse begegnet. Sie freute sich so auffällig, dass ich gekommen war, dass ich sofort nichts Gutes ahnte. »Ich freue mich«, sagte ich zu Sebastian, »dass du jetzt auch bei der Learning-by-Doing-Woche mitmachen willst!« Er wurde ein bisschen verlegen – auch das war merkwürdig –, sagte: »Ach, ich habe ja schon zweimal was gemacht …«, und verließ das Zimmer. Als er zurückkam, saßen wir anderen bereits beisammen und Ilse sagte: »Ich habe gar keine Lust gehabt, diesen Termin wahrzunehmen.« Berthold, der künftige Klassenleiter der neuen Klasse, war nicht anwesend. Er hatte bereits nach der Notenkonferenz in der vorhergehenden Woche angekündigt, er werde zum Zeitpunkt unseres Treffens »mit der Examensklasse einen saufen gehen«. An EVA hatte er nie Interesse. Carlo hatte noch den Versuch gemacht, Sebastian und Ilse als Klassenleiterpaar zu gewinnen, aber Sebastian lehnte ab. Also blieb es bei Berthold, der eigentlich gar nicht wollte: »Ich soll das machen, in meinem Alter …«. Die Pünktchen hatte er deutlich mitgesprochen. Eine neue Klasse ohne EV A-Klassenlehrer , stattdessen mit einem, der nicht wollte. Carlo ging es offenbar nicht gut. Er hatte mich gebeten zu kommen, obwohl ich gar nicht in der neuen 11. Klasse unterrichtete. Dann kam es: »Ich sag’s jetzt einfach mal«, konstatierte Ilse, »ich möchte am liebsten gar keine Learning-by-Doing-Woche mehr machen. Die Schüler nehmen das als Kasperletheater. Das bringt nichts.« Ich glaubte, nicht richtig zu hören nach all den Erfahrungen, die wir mit der Einführungsphase gemacht hatten. Ich schaute Carlo an. Jetzt musste etwas von ihm kommen! Er sagte: »Eine andere Schule hat unsere Learning-by-Doing-Woche kopiert, und die haben noch einen draufgesetzt. Die haben das Ganze verlängert und eine Schifffahrt mit den Schülern gemacht.« Was sollte das jetzt? In diesem Moment trat Hans ein. Gut! dachte ich, Hans und ich, wir haben so viele Male gemeinsam Learning-by-Doing gestaltet, er wird mich unterstützen im offenbar bevorstehenden Kampf für EVA. Aber Hans beugte sich nur zu dem sitzenden Carlo hinunter und flüsterte ihm zu, dass zwei Schüler ihn gern
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