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Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Titel: Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Schumacher
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erklärte Golitzin mit Blick auf das Heizgerät. »Diese kleinen Dinger arbeiten höchst effektiv und dank des geringen Innenvolumens der Zelte muss kaum überflüssige Luft erwärmt werden.«
    Der Russe öffnete die Kiste, auf der er saß, und holte etwas daraus hervor, das Ähnlichkeit mit einem Campingkocher hatte. »Im Vergleich zu den Bedingungen vor hundert Jahren liegt eine regelrechte Luxusreise vor uns.« Er entfachte eine Flamme und stellte einen blechernen Henkeltopf auf den Kocher, den er mit einem raschen Griff durch den Zelteingang mit Schnee gefüllt hatte. Der Schnee schmolz und das Wasser begann zu kochen. Der Russe warf mehrere Teebeutel hinein, worauf ein angenehm würziger Duft das Zelt füllte. Unwillkürlich musste Henry an Weihnachten denken.
    »Was hat es mit dem Kreuz auf sich, das oben auf dem Hügel steht?«, wollte er wissen, als Golitzin ihm einen Becher mit Tee reichte.
    »Das Scott-Gedenkkreuz? Es erinnert an einen anderen weltberühmten Entdecker, Robert Falcon Scott. Er hätte beinahe als erster Mensch den Südpol erreicht.«
    »Beinahe?«
    »Er und vier Begleiter kamen im Januar 1912 am magnetischen Südpol an. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie ihre Ausrüstung wochenlang eigenhändig über das Eis gezogen, da ihre Motorfahrzeuge liegen geblieben und sämtliche ihrer Ponys und Schlittenhunde krepiert waren. Als sie schließlich mit letzter Kraft ihr Ziel erreichten, mussten sie feststellen, dass der Norweger Roald Amundsen, ein Konkurrent Scotts, der ungefähr zur selben Zeit aufgebrochen war, den Pol rund vier Wochen früher erreicht hatte.« Golitzin trank schlürfend von dem brühheißen Tee. »Scott und seine Männer überlebten den Rückweg nicht. Das Kreuz erinnert an ihre nahezu übermenschliche Leistung.«
    Henry blies beeindruckt in seinen Becher. »Wenn ich das höre, bin ich froh, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben.«
    Von draußen drang, gedämpft durch zwei Schichten Spezialkunststoff, das Fluchen Professor Albrechts an ihre Ohren. Golitzin musterte Henry prüfend. »Wie alt bist du, Junge? Fünfzehn?«
    »Vor vier Wochen sechzehn geworden.«
    »Du scheinst körperlich ziemlich fit zu sein. Treibst du Sport?«
    »Basketball und Fechten. Und seit letztem Sommer versuche ich, Paragliden zu lernen.«
    »Ausgezeichnet.« Golitzin nahm einen tiefen Schluck. »Ich will ehrlich sein: Als Professor Albrecht uns mitteilte, dass ein Jugendlicher mit hier herauskäme, war ich äußerst skeptisch. Die Antarktis ist kein Ponyhof, schon gar nicht so kurz vor dem Wintereinbruch.« Ein versöhnliches Lächeln hellte sein vollbärtiges Gesicht auf. »Aber jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, hege ich keine Bedenken mehr. Die habe ich mittlerweile eher, wenn ich mir gewisse andere Mitglieder unserer Gruppe betrachte …«
    Wie aufs Stichwort ertönte von draußen ein kieksender Aufschrei. »Zum Donnerwetter, Duncan! Können Sie nicht aufpassen? Sie haben mir die Plane mitten ins Gesicht wehen lassen. Sapperlot, meine Brille! Wo um Himmels willen ist denn jetzt meine …«
    Henry grinste still in seinen Tee.
    »Ist deine Mutter ebenfalls Wissenschaftlerin?«, wollte Dr. Golitzin wissen.
    »Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie starb bei einem Segelunfall auf dem Lake Ontario, als ich elf war.«
    Golitzin sah ihn eine ganze Weile wortlos an. »Das tut mir leid«, sagte er dann. Seine blassen Augen wirkten mit einem Mal sehr müde, und für einen kurzen Moment glaubte Henry, eine tiefe, lange zurückreichende Trauer darin zu erahnen.
    »Ende der Pause«, sagte Golitzin abrupt und trank aus. »Zelt abbauen und zusammenpacken, dann von Neuem aufstellen!« Er erhob sich und stapfte nach draußen.
    Henry sah dem Russen durch die flatternden Bahnen der Eingangsschleuse nach. Hatte Golitzin eben erst realisiert, wieso Henry so viel daran lag, seinen Vater wiederzufinden? Oder hatte er sich an einen tragischen Verlust erinnert, der ihm selbst irgendwann widerfahren war – möglicherweise der Grund dafür, dass er sich für ein Leben am Ende der Welt entschieden hatte?
    Nachdenklich leerte Henry seinen Becher. Dann machte er sich daran, das Zelt abzubauen.
     
    Es war bereits Nachmittag, als Golitzin den SnoCat über die verschneiten Straßen zum Crary-Labor zurücksteuerte. Erstaunlicherweise fühlte sich Henry nicht halb so erfroren, wie er es nach stundenlangem Aufenthalt in der antarktischen Kälte erwartet hatte. Wer auch immer die Materialien ihrer Spezialbekleidung ausgetüftelt hatte, er

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