Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
auf. Sie schaufelten die Zelte vom Schnee frei, packten zusammen und fuhren weiter.
Der Vormittag war noch nicht weit vorangeschritten, als vor ihnen ein sonderbarer Anblick in Sicht kam.
Vor ihnen erstreckte sich eine schneeüberzogene Ebene, die bis zum Horizont von gleichförmigen Erhebungen und Kämmen bedeckt war. Es sah aus, als hätte man die Wellen eines Ozeans schockgefrostet.
»Sastrugi«, murmelte Dr. Golitzin hinter dem Lenkrad. »Das fehlte gerade noch.«
»Sastrugi?« Henry kam nach vorne und ließ seinen Blick durch die Windschutzscheibe über die endlose wellige Fläche schweifen. »Ist das Russisch?«
Golitzin schüttelte den Kopf. »So nennt man diese Eisformationen. Ein Resultat der hohen Geschwindigkeit, mit welcher der Wind hier über den Boden hinwegfegt. Er formt das Eis zu betonharten Wellenlandschaften. Die einzelnen Kämme sind zwar selten höher als ein bis anderthalb Meter, trotzdem ist es extrem mühselig, hindurch- und darüber hinwegzumanövrieren.«
Nach einer kurzen Beratung über den Bordfunk wurde beschlossen, die Reihenfolge zu ändern. Der kleinere, wendigere Hägglund sollte die Führung übernehmen und Fahrrinnen von ausreichender Breite auskundschaften, durch die der SnoCat folgen konnte, ohne Schaden zu nehmen.
Bei der Aussicht, einen weiteren Tag bei erbärmlich geringem Tempo im SnoCat festzusitzen, begannen Henrys Beine vor Nervosität zu kribbeln. Er erkundigte sich bei Dr. Golitzin, ob er für den Rest des Tages im anderen Fahrzeug mitfahren dürfe. Der Russe hatte nichts dagegen, also mummte sich Henry ein, sprang aus dem großen Kettenmobil und lief durch den Schnee zu dessen kleinerem Cousin hinüber.
Obwohl die Strecke kaum zwei Dutzend Meter betrug, schnitt ihm die Kälte wie mit Messern in die ungeschützten Teile seines Gesichts. Sein Kragenthermometer zeigte minus zweiunddreißig Grad, und nicht zum ersten Mal fragte er sich mit einem unguten Gefühl, wie tief es noch fallen würde. Während der vergangenen Nacht hatte er in seinem Zelt zum ersten Mal gefroren, und im SnoCat behielten mittlerweile alle ihre Handschuhe an.
Im vorderen Abteil des Hägglund empfing ihn Wärme, aber auch Enge. Laut Lincolns Worten war diese Hälfte des Fahrzeugs für sechs Personen plus Fahrer ausgelegt, der Hinterwagen sogar für elf. Ein Großteil des Platzes wurde jedoch von Gepäck und stinkenden Dieselfässern eingenommen, Letztere waren zum Glück allesamt im Anhänger verstaut. Auf dem Fahrersitz hockte Dr. Lamont, neben ihm Lincoln. Morten Gray hatte sich in dem bescheidenen Freiraum dahinter häuslich eingerichtet. Sein Schlafsack war als Polster über einen unbequem aussehenden seitlichen Sitz gespannt, ein Karton mit Energy-Drinks sowie ein Beutel Proteinriegel lagen griffbereit auf dem benachbarten Sitz.
Als Henry zustieg, räumte Gray seine Verpflegung ohne Widerrede beiseite. Lincoln machte irgendeinen Spruch, den Henry nicht verstand, und während er noch darüber kicherte, ließ Lamont den Wagen anrollen.
Das Fahren im Hägglund war völlig anders als im SnoCat, und das lag nicht allein an dem raueren Gelände, durch das sie jetzt fuhren. Das zweiteilige Fahrzeug bewegte sich viel ruckartiger als die schwerfällige Schneeraupe. Drehte Lamont am Steuer, knickte der hintere Teil in voller Fahrt zur Seite, und das Gefährt wechselte abrupt die Richtung. Hinzu kam das ständige, unregelmäßige Auf und Ab, wenn Lamont den Hägglund über eisige Wellenkämme prügelte. Henry stellte fest, dass ihm die Schüttelei weniger ausmachte, wenn er sich vorstellte, er säße in einer Berg- und Talbahn auf dem Rummel. Er knüllte seinen Parka zusammen und setzte sich darauf, um die Stöße zu dämpfen.
So ging es Stunde um Stunde ohne Unterlass. Der Hägglund sondierte das Gelände, suchte nach Zwischenräumen oder flacheren Eiswellen, und Golitzin folgte mit dem SnoCat. Auf diese Weise kamen sie zwar kaum schneller voran als während des Schneesturms, aber da Henry im vorderen der beiden Gefährte saß, hatte er wenigstens das Gefühl, der Schnellere zu sein und nicht gar so viel Zeit zu vertrödeln.
Gegen Mittag bekam er mit, wie Gray mithilfe eines leistungsstarken Mittelwellenfunkgeräts ihren Status an »Mac Ops« durchgab, so die Funkkennung der McMurdo-Station. Er tat dies jeden Tag um Punkt zwölf sowie noch einmal abends, sobald sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Diese Routine stellte eine Rückversicherung gegen einen möglichen Ausfall des GPS-Senders dar,
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