Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
den Tipp, mir einen Jahresvorrat Gras mitzunehmen. Sonst wird man bekloppt in der ständigen Dunkelheit, hat er gesagt.« Er zog erneut, dann hielt er Henry den Joint hin. »Magst du?«
Henry schüttelte den Kopf. In Collingwood war ihm schon öfter Marihuana angeboten worden, aber Henry hatte nie das Bedürfnis verspürt, es auszuprobieren. Er fühlte sich gut, wenn er sich körperlich betätigen konnte, das genügte ihm.
»Dann halt nicht.« Lincoln paffte und blies von Neuem eine Rauchsäule in die Höhe. Die Lichterscheinungen am Himmel spiegelten sich in seinen weit aufgerissenen Augen. »Weißt du, was das ist 7 «, hauchte er.
»Das Südlicht. Sonnenwinde, die in unsere Atmosphäre eindringen und für elektrische Entladungen …«
»Ich meine nicht den Quatsch, den Golitzin erzählt«, unterbrach ihn Lincoln. »Ich meine, was wirklich dahintersteckt?«
»Wirklich?«
Lincoln glotzte ehrfürchtig in die Höhe. »Fragst du dich nicht manchmal auch, ob wir tatsächlich die Einzigen sind?«
»Die … Einzigen?«
»In diesem Riesending von einem Universum, meine ich. Shit, es ist unendlich groß! Folglich gibt es unendlich viele Milchstraßen mit unendlich vielen Planeten. Und da sollen wir die Einzigen sein? In diesem ganzen verdammten, gigantischen Haufen?«
»Du meinst, diese Lichter …«
»Es könnten doch Signale sein, Mann! Signale einer fremden Macht aus dem All, gerichtet an diejenigen hier unten, die intelligent genug sind, sie zu entschlüsseln.«
»Mit intelligent genug* meinst du ausgerechnet Leute wie dich, die sich den ganzen Tag die Birne zudröhnen?«
»Jedenfalls bestimmt nicht solche Eierköpfe wie Golitzin, die mit ihren naturwissenschaftlichen Erklärungen alles unter den Teppich kehren wollen, was unseren mickrigen Horizont erweitern könnte.« Lincoln saugte aggressiv an seiner Kippe.
»Ich habe das Gefühl, du hast deinen Horizont für heute genug erweitert, Link.«
»Wirst schon sehen, wer recht hat, Mann. Wirst schon sehen.« Lincoln bedachte ihn mit einem gönnerhaften Lächeln und schnippte seine Kippe in den Schnee, wo sie zischend verlosch. Dann marschierte er kichernd Richtung Zelteingang.
»Hey! Wie war das mit dem Müll, den man brav mit zurück in die Zivilisation nehmen soll?«
»Ein popeliger Joint wird die Antarktis schon nicht aus den Latschen kippen lassen, Mann. G’nacht!« Damit verschwand Lincoln im Innern des Zelts.
Henry betrachtete noch einige Minuten die Signale von Lincolns »fremder Macht aus dem All«, dann kehrte er grinsend in sein Zelt zurück.
6
ANTARKTIS, 06./07./08. APRIL 2013
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, hatte dichtes Schneetreiben eingesetzt, und im Verlauf des Vormittags sank die Temperatur auf minus vierunddreißig Grad. Bald war die Sicht so schlecht, dass sie die Geschwindigkeit auf maximal zehn Stundenkilometer drosseln mussten. Die Gefahr, dass sie ungebremst in einen plötzlich aufragenden Fels oder ein anderes Hindernis hineinfuhren und eines der Fahrzeuge irreparabel beschädigten, war zu hoch.
Der Schneefall war umso ärgerlicher, als es laut Dr. Golitzin im antarktischen Inland eigentlich recht selten schneite. Während es an der Küste über das Jahr verteilt bis zu fünfundvierzig Zentimeter Neuschnee gab, waren es im Osten des Kontinents lediglich zwei.
»Das kommt davon, wenn man in den beginnenden Winter hineinfährt«, kommentierte der Russe zähneknirschend.
Als es nach gerade einmal siebeneinhalb Stunden schon wieder dunkel wurde, hatten sie lediglich achtundsechzig Kilometer zurückgelegt. Zu allem Überfluss ergab Morten Grays täglicher Funkkontakt mit McMurdo, dass man dort nach wie vor nichts von Donald Wilkins und seinen Leuten gehört hatte. Henry fühlte sich aufgewühlt und unruhig. In der Nacht fand er lange keinen Schlaf.
Der folgende Tag war kaum besser. Noch immer schneite es, wenngleich nicht mehr so heftig. Dafür wurde das Gelände allmählich unwegsamer. Sie schienen ständig bergauf zu fahren, was die Motoren der Fahrzeuge strapazierte und den Spritverbrauch in die Höhe trieb. Am Nachmittag mussten sie anhalten und den Tank des SnoCat aus einem der Dieselfässer nachfüllen. Abends versank die Sonne wiederum eine Viertelstunde früher als am Vortag. Henrys Nervosität wuchs. Er mochte sich nicht mehr unterhalten, selbst auf Eileens besorgte Fragen, ob es ihm gut ginge, antwortete er lediglich mit Kopfnicken und Grunzen.
Am Morgen des dritten Tages hörte das Schneetreiben
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