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Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Titel: Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Schumacher
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Weile ging alles gut … bis er eines Abends nicht anrief.« Sie seufzte. Henry konnte spüren, dass es sie Überwindung kostete fortzufahren.
    »Ich setzte mich sofort ins Auto und fuhr los. Noch von unterwegs verständigte ich Rettungskräfte und Notarzt. Rasch stellte sich jedoch heraus, dass das Areal, das Jerry sich zum Klettern ausgesucht hatte, riesig war. Am Ende einer über zehnstündigen Suche fanden wir lediglich seinen Jeep und die Campingausrüstung, nicht aber ihn selbst.«
    Eileen verstummte. Sie schwieg so lange, dass Henry schon annahm, sie würde den Rest der Geschichte nicht mehr erzählen. Doch dann holte sie tief Luft und fuhr fort.
    »Fünf Tage später entdeckte ihn ein Parkranger. Jeremy war in einen schmalen Seitencanyon geklettert und abgestürzt. Nach über zehn Metern freiem Fall war er zwischen zwei Felswänden stecken geblieben, mit gebrochenen Rippen und Trümmerfrakturen in Armen und Beinen. Er konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien, nicht einmal an den Rucksack mit seinem Handy kam er noch heran. Und natürlich hörte in der Wildnis niemand seine Hilferufe.« Sie schluckte. »Er ist verdurstet. Wir waren damals gerade fünf Monate verheiratet.«
    Ein Ruck fuhr durch Eileens Körper. Sie wandte sich vom Fenster ab. »Entschuldige. Ich wollte nicht … Ich weiß nicht, warum ich dir das erzählt habe. Schließlich weißt du selbst, wie ungerecht das Leben sein kann.«
    Henry dachte an seine Mutter und schluckte unwillkürlich. Obwohl ihr Tod mittlerweile fünf Jahre zurücklag, spürte er noch überdeutlich das Loch, das ihr Unfall in Dads und sein Leben gerissen hatte. Es fühlte sich anders an als damals, aber es war unverändert da. Und vermutlich würde es nie ganz verschwinden.
    Er sah auf und stellte fest, dass Eileens große braune Augen auf ihn gerichtet waren. Plötzlich hatte er das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen. »Man sollte nicht von einem ungerechten Leben sprechen«, begann er zögernd. »Das Universum ist zu groß, um sich um Begriffe wie ›gerecht‹ oder ›ungerecht‹ zu scheren. So hat Dad es mir nach Moms Tod erklärt. Es steckt kein böser Wille hinter den Dingen, die geschehen, keine Ungerechtigkeit in dem Sinn, wie wir sie definieren. Wer es so sieht, läuft Gefahr, ein verbitterter Mensch zu werden.«
    Eileen sah ihn nachdenklich an, dann nickte sie. »Dein Dad ist ein kluger Mann, Henry. Ich freue mich sehr darauf, ihn wiederzusehen.«
    Bevor Henry etwas erwidern konnte, bremste der SnoCat so ruckartig ab, dass Eileen gegen seine Schulter geschleudert wurde. Irgendwo im hinteren Teil des Fahrzeugs fielen polternd mehrere Kisten zu Boden.
    »Brutproklat!«
    Alarmiert sprangen Henry und Eileen auf und eilten nach vorn.
    Boris Golitzin saß kerzengerade auf dem Fahrersitz, eine Hand am Lenkrad, die andere über die Augen gehoben, als wollte er sie vor starker Sonneneinstrahlung schützen.
    »Whiteout! Das hat uns gerade noch gefehlt«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
    Henry folgte dem Blick des russischen Wissenschaftlers. Was er sah, war beängstigend: Vor der Windschutzscheibe des Kettenfahrzeugs schien sich ein weißes Nichts aufzutun. Es gab keinen Horizont mehr, keinen Himmel. Wohin man schaute, herrschte grenzenlose milchige Leere. Henry warf einen Blick aus dem Seitenfenster, doch dort erwartete ihn dasselbe Bild: ein verwaschenes Vakuum ohne Konturen oder Kontraste.
    »Was ist das?«, erkundigte er sich unsicher. »Nebel?«
    »Schön wär’s!« Schnaubend griff Golitzin zum Bordfunk. »Lamont? Gray? Hören Sie mich? Sofort Geschwindigkeit reduzieren. Weiße Finsternis voraus.«
    »Weiße Finsternis?« Henry warf Eileen einen ratlosen Blick zu, die jedoch nur mit den Schultern zuckte.
    »Als Whiteout bezeichnet man ein Wetterphänomen der Polregionen«, half Professor Albrecht vom Beifahrersitz aus. »Zur sogenannten Weißen Finsternis kommt es, wenn sich über einer verschneiten Landschaft eine geschlossene Wolkendecke bildet. Das Licht der Sonne wird dann immer wieder zwischen Wolken und Schnee hin- und herreflektiert. Die Folge ist ein Milchuniversum, wie ihr es jetzt da draußen seht, eine weiße Fläche ohne Anfang und Ende. Entfernungen sind nicht mehr abzuschätzen, Hindernisse nur äußerst schwer zu erkennen.« Mit gerunzelter Stirn sah er nach draußen. »Eine unglückliche Fügung, dass das ausgerechnet jetzt passieren muss. Ich fürchte, das wird uns einiges an Zeit kosten.«
    Das Funkgerät erwachte

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