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Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis

Titel: Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Schumacher
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zahllosen brenzligen Situationen, zu denen es im Verlauf der Fahrten gekommen war.
    Henry fand die Geschichten interessant, zugleich war ihm klar, dass Golitzins ungewohnte Gesprächigkeit ein Resultat der Anspannung war, unter der ihr Führer litt. Da die Tage immer kürzer wurden, fuhr der Russe die knapp sieben Stunden, die momentan noch an Tageslicht zur Verfügung standen, ohne Pause durch. Sieben Stunden permanente Konzentration, in denen Golitzin mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe starrte und versuchte, potenzielle Gefahren früh genug auszumachen.
    »Vor sieben … nein, vor acht Jahren brachte ich ein Team von Geowissenschaftlern zur Wostok-Station, tief im Osten. Es waren Russen, Landsmänner von mir. Wir verstanden uns prächtig. Eines Tages, wir hatten ungefähr die halbe Strecke zwischen Dome Concordia und dem Wostok-See zurückgelegt und waren mitten im Nirgendwo, fiel plötzlich das GPS aus! Boris, dachte ich damals, wenn du jetzt nicht aufpasst, wird das deine letzte Fahrt durch …«
    »GOLITZIN! VORSICHT!«
    Ein knisternder Schrei aus dem Bordfunkgerät schnitt Golitzin mitten im Satz das Wort ab. Instinktiv trat er auf die Bremse -keine Sekunde zu früh! Als Henry und Eileen an seine Seite eilten, um zu sehen, wovor Morten Gray sie gewarnt hatte, stockte ihnen der Atem.
    Keine drei Meter von der Schnauze des SnoCat tat sich ein gähnender Spalt im Eis auf. Er verlief von links nach rechts, so weit das Auge ihm durch das verwaschene Weiß zu folgen vermochte. Seine bläulich glitzernden Wände fielen fast lotrecht ab. Die andere Seite war mehr als ein Dutzend Meter weit entfernt.
    Durch das Seitenfenster erkannte Henry den Hägglund, einen guten Steinwurf links von ihnen. Gray, der heute am Steuer saß, war ihnen ein Stück voraus gewesen und hatte vor der Eisspalte haltgemacht, während Golitzin, abgelenkt durch seine eigene Erzählung, weiter darauf zugerollt war.
    »Brutproklat«, hauchte der Russe tonlos. »Zwei Sekunden noch, und wir wären in die Tiefe gestürzt!« Er vergrub sein bärtiges Gesicht in den Händen. »Ich … ich habe den verfluchten Spalt einfach übersehen.«
    Eileen winkte Gray durch die Scheibe zu und griff nach dem Sprechteil des Funkgeräts. Bevor sie etwas durchgeben konnte, hatte Golitzin sich schon wieder gefasst und nahm es ihr aus der Hand.
    »Sie haben uns das Leben gerettet, Gray«, sagte er ruhig. »Danke … ßpaßibo, wie wir bei uns sagen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Höchste Zeit für eine Teepause, würde ich sagen.«
    Niemand widersprach.
    Die Eisspalte erstreckte sich über eine Breite von gut fünfhundert Metern. Sie zu umrunden, verschlang Zeit, doch nur ein paar Kilometer nachdem sie auf der anderen Seite ihren ursprünglichen Kurs wieder aufgenommen hatten, geschah etwas, das die Laune aller erheblich verbesserte.
    Die Wolkendecke über ihren Köpfen riss auf und kaltes Sonnenlicht überflutete die fremdartige weiße Welt ringsherum.
    Staunend beobachtete Henry das Schauspiel durch eines der Seitenfenster. Es war, als drehe jemand an den Reglern eines gigantischen Schwarz-Weiß-Fernsehers, dessen Bild die ganze Zeit zu hell und kontrastarm eingestellt war. Während er hinsah, kehrten die Konturen der hügeligen Eislandschaft zurück, in der Ferne schälte sich der Horizont aus dem Nichts, eine wellige Kontur, die grelles Weiß von extrem hellem Blau trennte.
    Henry spürte, wie seine Bedrückung nachließ. Zum ersten Mal seit Tagen konnte er wieder frei durchatmen.
    »Großer Gott, was ist das?«
    Henry fuhr herum. Innerhalb eines Sekundenbruchteils entdeckte er, was Eileen so erschreckt hatte – und riss ungläubig die Augen auf.
    Schätzungsweise fünfzig Kilometer vor ihnen war das milchige Weiß nicht einer waagerechten Trennlinie gewichen. Stattdessen erhob sich dort eine monströse Wand, die von einem Ende des Horizonts zum anderen zu reichen schien. Sie war von einem mit Grau durchsetzten Weiß, das auf schneebedeckten Fels schließen ließ, und ragte nahezu senkrecht in die Höhe. Das Beunruhigendste war allerdings, dass das Gebilde in keiner Richtung ein Ende zu nehmen schien – weder seitlich noch nach oben, wo es im wahrsten Sinne des Wortes mit den Wolken verschmolz.
    Es war das erhebendste und zugleich verstörendeste Bild, das Henry je gesehen hatte.
    Bevor er seine Überraschung in Worte fassen konnte, kündigte ein aufgeregtes Knacksen eine Meldung über den Bordfunk an.
    »Dr. Golitzin, Hilmar …

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