Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
eingelassenem Kompass neben seiner Schlafstelle. Etwas weiter stand ein mobiles Kochgerät mit einer blauen Propangasflasche. Golitzin hatte den Regler für die Flammengröße mit einer Zange in der höchstmöglichen Position fixiert, öffnete man nun das Ventil und hielt ein brennendes Streichholz davor, würde eine unterarmlange Gasflamme aus dem Gerät hervorschießen – im Nahkampf eine gefährliche Waffe, wenn auch nicht ganz so furchteinflößend wie das Schweißgerät, das Golitzin für den Fall der Fälle im Hauptzelt platziert hatte.
Henry knipste das Licht wieder aus. Trotz aller Vorkehrungen fühlte er sich unwohl. Immer wieder zog vor seinem inneren Auge das verwaschene Bild der gräulichen Kreatur auf, die Hank Brannigan in den letzten Sekunden seines Lebens mit der Digicam festgehalten hatte.
Unruhig ließ er Lincolns Alien-Theorie erneut Revue passieren. Konnte Brannigans Mörder tatsächlich ein Wesen von einem anderen Planeten gewesen sein? Alles in Henry sträubte sich dagegen, diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Aber welche anderen Erklärungen gab es?
Ein dumpfes Brummen gesellte sich zum Heulen des Windes, das von draußen durch die Kunststoffplanen drang. Wahrscheinlich kämpfte Professor Albrecht im Nachbarzelt wieder mit seinem Heizgerät. Henry drehte sich auf die andere Seite und versuchte, endlich zur Ruhe zu kommen und etwas Schlaf zu finden.
Vergeblich.
Was hatte sein Vater nach dem Angriff auf das Camp unternommen? Waren er und die restlichen Überlebenden wirklich in das Tunnelsystem hinabgestiegen? Falls die grauen Wesen, wie Lincoln vermutete, aus den Stollen kamen, war diese Vorstellung absurd. Andererseits schien das Labyrinth aus Gängen mindestens so riesig zu sein wie die Stadt selbst. Eine Handvoll Menschen mochte sich dort verbergen und eine Weile unentdeckt bleiben können.
Das Brummen draußen verstummte, nur noch der Wind war zu hören.
Henry drehte sich abermals auf die andere Seite. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sein Vater noch am Leben war?
Niemand wusste es.
Das Gedankenkarussell in seinem Kopf drehte sich noch eine ganze Weile weiter. Irgendwann spürte Henry, wie seine Lider schwer zu werden begannen, wie die wohlige Trägheit des Schlafes nach und nach von seinen Gliedern Besitz ergriff …
Ruckartig schrak er hoch.
Jenseits der Zeltplane hatte der festgetrampelte Schnee geknirscht. Schritte!
Lincoln? Henry warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Leuchtziffern behaupteten, dass es Viertel nach eins war. Eine sonderbare Zeit, um sich zu unterhalten. Aber Link war ja auch ein sonderbarer Kerl.
Ein erneuter Schritt, höchstens einen oder zwei Meter von der Außenwand des Zelts entfernt, gefolgt von zwei weiteren.
Dann Stille.
Henry runzelte die Stirn. Offenbar hatte Lincoln sich einen Joint angezündet, den er erst noch aufrauchen wollte.
Oder aber … das dort draußen war gar nicht Lincoln!
Lähmende Angst schoss durch Henrys Glieder. Er hielt den Atem an. Lautlos schob er eine Hand aus dem Schlafsack und tastete in der Finsternis nach der Signalpistole.
Wieder zwei knirschende Schritte, dann ein dumpfes, flappendes Geräusch. Der Wind war gegen die Zeltplane gefahren und hatte sie nach innen gedrückt.
Wirklich der Wind?
Henry wurde abwechselnd heiß und kalt. Mit schockierender Deutlichkeit sah er das Bild aus der Videoaufzeichnung vor sich, den Innenraum von Hank Brannigans Einmannzelt, das seinem zum Verwechseln ähnelte. Obwohl es nur knapp über null Grad war, traten ihm Schweißperlen auf die Stirn.
Wo zum Henker war die verfluchte Signalpistole?
Etwas schabte von außen über die Zeltplane, unmittelbar oberhalb der Stelle, an der Henry lag.
Seine Fingerspitzen berührten etwas Kaltes, Hartes. Er griff zu.
Es war der Benzinkocher. Besser als nichts. Aber wo waren die Streichhölzer?
Ein erneutes Schaben. Henry glaubte, ein leises Keuchen von draußen zu hören – den flachen, gepressten Atem von jemandem, der sich bemüht, möglichst kein Geräusch zu verursachen.
Statt der Streichhölzer stieß Henrys tastende Hand jetzt auf den Griff des Überlebensmessers. Mit bebenden Fingern löste er den Druckknopf am Griff der Scheide und zog langsam die Klinge heraus.
Draußen, weiter entfernt diesmal, ertönte ein leiser Pfiff.
Die knirschenden Schritte erklangen von Neuem, rascher und zielstrebiger als bisher. Im Handumdrehen hatten sie das Zelt umrundet, erreichten die Eingangsschleuse.
Henry nutzte die
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