Schumacher, Jens - Frozen - Tod im Eis
Zelte, Heizgeräte und ausreichende Nahrungsvorräte können sie unmöglich elf Tage hier draußen überlebt haben.«
»Vielleicht doch!« Henry sprang ebenfalls auf. »Wenn sie sich in die Tunnel unterhalb der Stadt zurückgezogen hätten, hätten sie eine Überlebenschance. Dort ist es nicht kalt, mein Kragenthermometer hat am Nachmittag nur knapp unter null angezeigt.«
Professor Albrecht nickte langsam. Als er merkte, dass alle Anwesenden ihn gespannt musterten, hob er abwehrend die Hände. »Als Donalds Freund und Kollege bin ich bereit, alles Erdenkliche zu tun, um sein Verschwinden aufzuklären. Aber als Verantwortlicher für unsere Expedition darf ich meine persönlichen Interessen nicht über die Sicherheit meiner Mitreisenden stellen. Ich enthalte mich.«
Henrys Blick wanderte weiter zu Morten Gray. Der hagere Mann saß wie üblich ein Stück abseits der Runde. Sein kantiges Gesicht verriet keine Gefühlsregung.
Das war’s, dachte Henry automatisch. Gray war kein Freund seines Vaters, er kannte ihn nicht einmal. Niemand konnte von ihm verlangen, dass er sich vorsätzlich in Gefahr brachte, in der vagen Hoffnung, ein paar ihm völlig unbekannte …
»Ich bin ebenfalls dagegen, dass wir abreisen«, sagte der Funker unvermittelt. Als er Henrys verwunderten Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Meiner Einschätzung nach ist das Risiko nicht so hoch, dass wir nicht noch einen oder zwei Tage in die Suche investieren könnten.«
Nun hing also alles an Lincoln. Der Professor hatte gesagt, wenn auch nur ein Teammitglied abreisen wolle, werde er die Konsequenz daraus ziehen. Und Lincolns nahezu panischer Ausbruch wenige Minuten zuvor hatte nicht den geringsten Zweifel daran gelassen, dass er von hier verschwinden wollte, lieber gestern als heute.
Als er merkte, dass alle ihn anstarrten, begann Lincoln nervös auf seiner Unterlippe zu kauen. »Das ist nicht fair«, rief er. »Ihr könnt die Verantwortung für so eine Entscheidung nicht allein auf mich abwälzen!« Er hob den Kopf, sein Blick flackerte in Henrys Richtung. »Ich meine, ich will auf keinen Fall hier rumhocken, bis die Aliens kommen und auch unser Lager auseinandernehmen! Aber ich kann auch nicht … also, Henrys Dad …« Sein Arm schnellte in die Höhe und deutete auf Dr. Golitzin. »Er hat sich noch nicht geäußert! Sie sind doch der Ansicht, dass es irrwitzig wäre, ohne Waffen hierzubleiben, Dr. Golitzin. Oder etwa nicht?«
Der Russe zuckte mit den Schultern. »Ich habe unsere aktuelle Situation dokumentiert, das ist alles. Ich führe diese Reisegruppe auf Honorarbasis, das heißt, ich habe mich den Weisungen des Expeditionsleiters unterzuordnen.« Er wies auf Professor Albrecht. »Was der Professor anordnet, wird getan.«
Lincoln stampfte mit dem Fuß auf. »Das könnt ihr nicht von mir verlangen! Möglicherweise bedeutet diese Entscheidung für jemanden den Tod – für uns oder für Henrys Dad.«
Eileen trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Aber die Entscheidung kann dir niemand abnehmen.«
Mit hängenden Schultern, das Haar wirr in der Stirn, stand Lincoln da. Ein Teil von Henry empfand Mitleid mit ihm, ein anderer wollte einfach nur, dass er eine Entscheidung traf.
»Die Sache muss nicht sofort beschlossen werden«, ergriff Professor Albrecht wieder das Wort. »Heute Abend ist es ohnehin zu spät für weitere Maßnahmen. Ein paar Stunden Schlaf sollten für Klarheit sorgen. Morgen in aller Frühe entscheiden wir, wie es weitergeht.«
All das lag mittlerweile mehrere Stunden zurück. Eigentlich hatte Henry damit gerechnet, dass Lincoln im Anschluss an die Versammlung noch bei ihm im Zelt vorbeischauen würde – sei es, um ihn um Rat zu fragen oder um Henry für seine morgige Entscheidung um Verzeihung zu bitten. Henry hatte lange darüber nachgedacht, wie er reagieren würde, falls Link für eine sofortige Abreise plädierte. Darüber hatte er die Zeit völlig vergessen. Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es bereits zwei Stunden später, und ihm dämmerte, dass Link nicht mehr kommen würde.
Eine Weile lauschte Henry dem monotonen Winseln des Windes, dann knipste er die Taschenlampe an – schätzungsweise zum zwanzigsten Mal, seit er in seinen Schlafsack gekrochen war -und überprüfte die Ausrüstung, die Golitzin jedem Teammitglied für die Nacht mitgegeben hatte: Ordentlich aufgereiht lagen eine Signalpistole, ein Brecheisen sowie ein großes Überlebensmesser mit
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