Schussfahrt
Intellekt fordert. Wenn es aber an deine Nerven geht, deinen Tagesablauf
stört, dann ist dir das entschieden zu kompliziert. Jo! Du bist nun mal nicht
die Frau, die im Namen der Liebe die Last eines schwierigen Menschen auf ihre
schmalen Schultern laden will.«
»Spar dir deinen
Sarkasmus. Ich weiß selbst, dass ich mir gern die Rosinchen aus dem Kuchen
picke.«
»Hm«, hatte Andrea
gesagt, »und dann wechselst du mal locker den Spieler von der Ersatzbank ein.
Dann kommt dein lieber alter Freund Gerhard ins Spiel, um dein Auto zu
reparieren oder um Ersatzteile für dein Mountainbike zu besorgen.«
Auch das stimmte
auffallend, hatte Jo gedacht. Mit Gerhard – nicht mit Marcel – hatte sie ihre
Mountainbiketouren gemacht und am Abend waren sie meist im Rössle eingekehrt.
Da war dann Gerhard durchgefallen. Er sollte doch bitte keine Banalitäten
erzählen. Er sollte wirklich nicht ihren regen Geist langweilen.
»So geht das nicht,
Schätzchen«, war Andrea fortgefahren, »best of both worlds gibt es nicht.«
»Ja, Frau Doktor
Diplom-Psychotante. Aber glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß? Das Mühlrad
arbeitet weiter und beantwortet meine Fragen in seinem gleichförmigen Mahlen
erst recht nicht: Welcher Kompromiss ist mir denn nun der liebere? Der Kluge,
der ernst und kompliziert ist? Oder der loyale Freund, der mich zum Lachen
bringt. Und der mich manchmal mit seiner Banalität an den Rand des Wahnsinns
treibt? Fußball, Kumpels – das ist ihm wirklich wichtig.«
Andrea hatte ins
Telefon gelacht: »Tja, meine liebe Freundin, auf dieses Problem hast du keinen
Exklusivitätsanspruch. Den Mister Supermann, der alles gleichzeitig kann und
vor allem zu der Zeit, die Madame konveniert – den gibt’s leider nicht. Falls
du ihn triffst, sag unbedingt Bescheid!« Andrea hatte lauthals gelacht. Jo
auch.
Sie hatten noch eine
Stunde herumgealbert. »Na, jedenfalls viel Spaß in Chile. Vielleicht triffst du
einen feurigen Hacienda-Besitzer. Schick mir ein Flugticket, ich besuch dich
dann.«
»Blöde Kuh, ich
komme schon wieder zurück. Ich ruf dich aber sofort an, wenn ich einen gefunden
habe, der eine deutsche Psychotante sucht«, hatte Jo das Gespräch beendet und
war Koffer packen gegangen: Winterklamotten mitten im Hochsommer! Ihr Skisack
hatte schon im Flur gestanden, draußen waren es dreißig Grad im Schatten
gewesen.
Nach einem endlosen
Flug über Madrid und São Paulo landeten sie in Santiago de Chile. Dort wartete
ein Kleinbus. Der erste Anlaufpunkt sollte Portillo sein, ein Skiresort unweit
der argentinischen Grenze in einem Meer aus Schnee und Eis. Die Kollegen aus
allen Teilen Deutschlands waren ein wilder Haufen. Der Cabernet Sauvignon floss
schon am ersten Abend in Strömen. Aber es war nicht so sehr die Benebelung
durch den Alkohol, Jo wurde von einer nebulösen Nebenwelt gleichsam
verschluckt. Sie fühlte sich schwerelos, wie auf einer Insel am Rande der
Wirklichkeit, unter willkürlich zusammengewürfelten Menschen, die nur eins einte: der Zufall und die Tatsache, dass es keinen Notausgang gab!
Genau genommen gab
es doch einen Ausgang: die verwegene Gebirgsstraße, auf der sie gekommen waren.
Sie war den Elementen ausgesetzt, den Lawinen und dem Steinschlag.
Unbeleuchtete Lkws mit flatternden Planen auf dem langen ungewissen Weg nach
Argentinien blieben zuhauf am Straßenrand hängen. Einen hatte eine Lawine am
Vortag mit sich gerissen, gute fünfhundert Höhenmeter tief. Kein
aussichtsreicher Fluchtweg!
Keiner konnte hier
auf einer Höhe von über dreitausend Metern schlafen. Jo hängte patschnasse
Handtücher in ihrem Zimmer auf, um die extrem trockene Luft besser aushalten zu
können. Am nächsten Morgen waren die Handtücher trocken. Jo und ihre
schlaflosen Kollegen suchten Zuflucht an der Bar.
Unter den
Zufluchtsuchenden waren auch mehrere internationale Skinationalmannschaften,
die hier im chilenischen Winter ihr Sommertrainingslager hatten. Die
norddeutschen Kollegen fanden das verwunderlich, aber Jo konnte es gut
erklären: »Hier herrschen optimale Bedingungen zum Trainieren und Ski-Testen.
Wisst ihr, auf den mitteleuropäischen Gletschern haben die Pisten im Sommer für
die schnellen Disziplinen – also Abfahrt und Super G – gar nicht genug Länge.
Und dann kommt hinzu: In den Alpen gibt es im Sommer Sommerschnee, das heißt,
der hat eine ganz andere kristalline Struktur als der Winterschnee. Hier ist
Winter, und nur so kann man Ski unter Wettkampfbedingungen testen.«
»Gut
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