Schussfahrt
gebrüllt,
Löwe«, kam es von hinten. Jo drehte sich verdutzt um und staunte nicht
schlecht, als sie Martin »Martl« Neuner sah. Sie kannten sich von früher, so
wie alle Allgäuer in etwa gleichem Alter sich von früher kennen, aber sie hatte
ihn aus den Augen verloren – ihn, den großen Superstar. Sie erinnerte sich noch
an die Kreiscup-Rennen. Er wollte damals schon nur eines: siegen. Das tat er
dann bereits als Zehnjähriger, nicht unbedingt verbissen, aber absolut
konsequent.
»Martl, servus. Das
ist ja schon witzig. Da muss ich um die halbe Welt fliegen, um einen Allgäuer
zu treffen. Zu Hause würde ich wahrscheinlich nicht mal ein Autogramm von dir
bekommen.«
»Du doch immer«,
flirtete er sofort mit ihr. Unrasiert, viel zu blond, ein Hauch von nettem
Jungen um die Augen, weniger als ein Hauch. Auch etwas Hartes umgab ihn. Eine
gefährliche Mischung!
Jo stellte ihn den
Kollegen vor, die ihn natürlich kannten. »Aus Funk und Fernsehen«, wie eine
blonde Kollegin gleich ziemlich albern zu zwitschern begann. Martl schien nicht
interessiert zu sein, Jo räumte aber dennoch das Feld. Er schickte ihr einen
Blick hinterher.
Jos Gruppe fuhr
weiter nach Termas de Chillan. Die deutsche und die italienische Mannschaft
folgten einen Tag später, weil sie ihr Trainingsquartier verlegt hatten. Termas
lag unter einem Vulkan, der aus allen Ritzen qualmte. Schwefelgestank lag in
der Luft, Bäume waren mit Moosen verhängt – eine Theaterkulisse für ein
Endzeitdrama. Und am Ende der Welt stand ein Grand Hotel wie ein Fremdkörper: zu nobel, zu teuer und voller Menschen, die unter Strom standen.
Für Jo war es wie
die bizarre Kulisse für ein Drama. Hier hätte sie Isabel Allende verfilmt: Während draußen die Welt zusammenstürzt, leben drinnen einige Privilegierte
weiter. Sie leben schneller als anderswo, ungeduldig, der Herzschlag ist
weithin hörbar – verräterische Herzen!
Das Wetter schlug
um. Ein plötzlicher Wärmeeinbruch brachte Regen. Er war so dicht, dass jedes
Entkommen verstellt schien. Die Skifahrer waren genervt, auch sie mussten im
Hotel abwarten. An Training war nicht zu denken.
Aber eines
vermittelten sie sehr unverblümt: Es war besser, mit ein paar netten
Tourismusmädels zu warten. Drinnen im Hotel vibrierte die Luft, Blicke
taktierten, Blicke enthüllten, Blicke spielten gefährliche Spiele. Der Tag
schleppte sich hin.
Das Hotel hatte ein
Thermalbad. Gesprächsfetzen verhallten über dem heißen Wasser. Dichter Dunst
lag in der Luft und vernebelte alle Vernunft. Die blonde Kollegin hatte ihre
Attacke auf Martl aufgegeben und einen italienischen Abfahrer im Visier. Martl
lag auf einer Liege am Beckenrand, ein Handtuch um die Hüften. Die muskulösen
Oberschenkel kaum verdeckt, die Brust mit feinen, kurzen Härchen überzogen.
Jo kam aus dem
Wasser. Sein Blick wurde deutlicher. Jo schaute weg und nahm sich ein Buch.
Rückzug ins Handtuch, angezogene Knie, die Arme darum geschlungen, letzte
Bastionen hochgezogen. Es regnete unentwegt weiter.
Es kam der Abend an
der Bar. Jo fummelte einen Hosenanzug aus dem Koffer. Einen, den sie sonst mit
Rollkragenpullover trug. Heute nahm sie nur das Sakko, nichts drunter. Die
Auswahl der Kleidung unterlag nicht mehr Jos eigener Hand, sie geschah einfach.
Sie tranken Pisco Sauer. Jo hatte keine Ahnung, ob sie einen oder fünf oder
zehn getrunken hatte. Ihre Worte wurden stetig kühner. Hatte Jo wirklich zu
Martl und einem Südtiroler Trainer gesagt, dass sie sich entscheiden würde im
Laufe der schwülen Nacht, wer den Zuschlag bekäme. Wer hatte da aus dem Nebel
geredet?
Es gab ein
offizielles Abendessen für die Tourismusleute. Jo hatte nasse Hände und
schickte hektische Blicke zur Tür, die Ohren gespitzt hinauf zur Bar. Mussten
Sportler nicht früh zu Bett?
Sie mussten nicht,
denn in dieser Nacht wurde nur mit höchsten Einsätzen gespielt, da zählten
andere Prioritäten als banale Schlafenszeiten. Das Spiel ging weiter, die
Erregung ließ die Luft flirren. Gedanken verflüchtigten sich, lange bevor sie
überhaupt zu formulierbaren Sätzen werden konnten.
Die Kandidaten
zeigten ihre Waffen: Der nette Abfahrtstrainer führte den Südtiroler Charme im
Schilde, Martl nichts als animalische Gier. Der Nette oder das Tier? Das Tier!
Der Aufzug war zu
schnell, wie alles hier an diesem Tag. Es war nicht mal Zeit für weiche Knie.
Er war nackt, als er die Weinflasche mit einem Skistock öffnete. Er kam mit
zwei Gläsern auf sie zu. Bei jedem seiner
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