Schussfahrt
momentan davon Abstand, Sie festnehmen zu lassen. Wir überprüfen zuerst
Ihre Angaben, aber Sie halten sich zur Verfügung und lassen den Tag noch mal
vor Ihrem inneren Auge ablaufen. Alles ist wichtig! Sie überlegen bitte sehr
genau, ob Sie nicht doch jemand gesehen hat. Ich erwarte Sie morgen Nachmittag
erneut hier bei mir. Sollten Sie einen Anwalt mitbringen wollen, steht Ihnen
das frei. Sie können gehen.«
Marcel Maurer erhob
sich und taumelte grußlos durch den Türrahmen.
Gerhard schnappte
nach Luft. »Wie können Sie den gehen lassen?«
Volker winkte ab und
griff zum Telefon. »Wie besprochen, den Maurer bitte überwachen. Er verlässt
jetzt das Haus.« Er zwinkerte Gerhard zu. »Wenn er es war, kriegen wir ihn! Der
fällt bei einer schärferen Befragung auf jeden Fall um. Er ist eine Mimose.«
Gerhard verzog das
Gesicht. »Was die Mimose betrifft, stimme ich zu, aber den lassen Sie laufen
und Moritz …«
»… ist längst wieder
auf freiem Fuß. Peter Rascher und seine Frau, die als Lehrer ja über einen
ausgezeichneten Leumund verfügen, haben sich bereit erklärt, ihn für die Zeit
der Ermittlungen aufzunehmen und dafür gerade zu stehen, wenn er sich aus dem
Staub macht.«
Gerhard starrte
Volker Reiber an und raunzte: »Na, das mit dem Leumund klang aber vor einigen
Tagen noch ganz anders.«
»Es ist Ihnen ja
wohl auch präsent, dass sich das Blatt in solchen Fällen schnell wendet. Und
wenn Sie mich fragen: Ich glaube, dass weder dieser Moritz noch dieser Maurer
den Mord begangen haben. Das sagt mir meine untrügliche Nase. Und was sagt
Ihre, Herr Weinzirl?«
Obgleich das eher
nett gemeint war, ahnte Volker, dass es in Gerhards Ohren doch wieder nur arrogant
klingen musste und dass Gerhard die leise Annäherung vorhin am Kaffeeautomat
wohl wieder vergessen hatte.
»Meine Nase? Sie
sagt mir nur, dass alles offen ist«, grummelte Gerhard und dachte an Martl. Und
wieder hielt ihn etwas davon ab, Volker einzuweihen.
»Machen wir hier
heute Schluss, ein halber Sonntag ist besser als keiner! Ich werde diese Frau
Straßgütl und den Kollegen Holzapfel noch mal ganz dezidiert nach dem gelben
Punto fragen lassen«, sagte Volker geschäftsmäßig.
»Na, die werden
begeistert sein, die kennen im Tal nun wahrscheinlich auch schon jeden Bewohner
beim Vornamen und dessen gesamte Biographie«, meinte Gerhard.
»Lehrjahre sind
keine Herrenjahre.«
Volker klang
säuerlich, stand auf, nickte Gerhard zu, zog sein cognacfarbenes Ledersakko über
und verließ wie gewohnt zackig den Raum.
Gerhard wartete
einige Minuten, bis er Volker außer Hörweite glaubte, und dann schleuderte er
voller Wut zwei Aktenordner gegen den Spind.
17.
Jo betrachtete
Moebius und begann zu heulen, weil der Kater so schöne Augen hatte. Sie machte
den Fernseher an und begann zu zappen. Auf RTL lief ein verkitschter amerikanischer Liebesfilm, der schlecht ausging.
Ausgangspunkt der Geschichte war eine Flaschenpost, es kam zu
Missverständnissen und verquer laufenden Lebenslinien. Als alles gut schien,
kam der Held ums Leben. Kevin Costner: So schön, so männlich, so tot. Jo
heulte. Auf einem anderen Kanal ging es in einer Diskussion um brennende
Asylantenheime. Und Jo weinte über ihre Unfähigkeit, zu diesem traurigen Universum
irgendetwas Sinnvolles beigetragen zu haben.
Sie schaltete ab und
starrte nach draußen. Es hatte wieder angefangen, nass und pappig aus einem
tiefgrauen Himmel zu schneien, und Jo heulte und schnäuzte sich.
Schließlich griff
sie zum Telefon, wählte Andreas Nummer und schniefte hinein: »Ich bin so blöd
…«
»Jo, Süße! Was ist
los?«
»Ich weiß nicht, ich
kann nicht mehr aufhören zu heulen. Weil die Welt so grauenvoll ist und weil es
schneit und weil …«
»Schneien ist gut.
Schnee deckt alles gnädig zu. Wenn sich Schnee auf deine Seele legt, kehrt Ruhe
ein. Du bist ein Wintermensch. Schnee heilt.«
»Ja, sonst war das
so, aber es funktioniert nicht mehr.« Jo hatte ein nervöses Tremolo in der
Stimme.
»Heh, Jo, das ist so
eine Art Nervenzusammenbruch, eine Überlastung der Sinne und der Gefühle. Wie
bei einem Gummiband, das man abwechselnd in zwei Richtungen überdehnt.
Irgendwann muss es reißen. Heul, das hilft.«
»Hilft auch nicht,
ich heul ja schon den ganzen Tag.«
»Ach Süße, mach
weiter, irgendwann versiegt das Wasser.«
»Sagst du. Wenn es
aber doch gar keine Lösung gibt …« Der Rest ging in Schluchzen unter.
»Wofür gibt es denn
keine Lösung?«, fragte Andrea
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