Schussfahrt
auch wenn
das ein sehr antiquiertes Wort ist.«
Frau Müller ließ Jos
Worte verhallen. »Es freut mich, wenn Sie als junger Mensch so denken. Dass
auch Ihrer Generation solche durch und durch bescheidenen Menschen noch etwas
sagen können. Karls Großvater besaß diese Gabe schon, er konnte allein durch
Handauflegen heilen. Der Vater hat vielen Menschen geholfen, und der Karl tut
das auch. Aber nicht mehr lange! Seine Kinder haben das Geschick nicht geerbt.
Derartiges Wissen stirbt aus. Leider! Oder finden Sie, ich bin eine alte Frau,
die fortschrittsfeindlich an der guten alten Zeit hängt?«
Jo widersprach: »Im
Gegenteil, außerdem sind Sie nicht alt!«
»Ich fühle mich
tatsächlich jünger – seit ich dank dem Karl wieder wie eine Junge aus dem Bett
hüpfe und nicht wie ein Käfer auf dem Rücken liege, der nicht mehr auf die Füße
kommt«, sagte Frau Müller fröhlich. »Außerdem, beim Karl sieht man tatsächlich
nicht nur alte Frauen wie mich.«
»Das wollte ich Sie
gerade fragen. Wer geht denn so zum Karl?«, fragte Jo.
»Och, den Bauern
Karl suchen Menschen auf, die beispielsweise nicht plakativ und werbewirksam an
die Öffentlichkeit gezerrt werden wollen. Schauen Sie, der Karl verlangt keine
Bezahlung. Er hat richtig prominente Kunden, die viel Geld haben. Aber auch
deren Geld hat er immer abgelehnt. Vielleicht nahm er mal zehn Euro. Als Geste.
Meist für den Opferstock oder für die neue Orgel, denn für ›a Gabe Gottes kasch
kui Geld it nä‹, hat er immer gesagt.«
Jo zögerte vor ihrer
nächsten Frage: »Haben Sie mal jemanden Prominentes getroffen? Nicht, dass ich
neugierig wäre, aber …«
Frau Müller lachte.
»Aber, Kindchen, Neugierde ist wichtig in Ihrem Alter. Ich habe tatsächlich
einige Prominente getroffen, Sie wissen schon, Lokalpolitik, Chefärzte, die nun
wirklich nicht beim Karl gesehen werden wollen.«
Jo war enttäuscht,
als sie weiterfragte: »Und sonst, niemand so richtig Prominentes? Aus dem
Fernsehen?«
Frau Müller lachte
wieder. »Doch, anfangs wusste ich gar nicht, wo ich den hintun sollte. Ich habe
ihn dann einige Tage später im Fernsehen gesehen. Es war so ein Skifahrer, sehr
attraktiv und sehr nett. Er saß wie ich im Kuhstall und erzählte mir: Als er
erstmals beim Karl gewesen sei, habe der gesagt: ›D Leit redet immer von deane
viela Krankheita. Des isch a Schmarra. Es geit bloß ui Krankheit, weil es geit
au bloß ui Gesundheit. Alls hängt zämet.‹ Das habe er sich gemerkt. Dann hat
ihn der Karl abgeholt.«
Jo schluckte.
»Konnte der Karl ihm denn dabei helfen, seine eine Krankheit wegzukriegen?«
»Das weiß ich nicht.
Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Es schien ihm plötzlich unangenehm gewesen zu
sein, mit mir geredet zu haben. Na ja, ich bin ja auch neugierig und habe den
Karl nach ihm gefragt. Der hat nur gebrummt: ›Sei Kreiz ka i heila, aber it sei
Seele.‹«
Während des
Gesprächs hatte Jo nun fast Karls Hof erreicht. Sie war völlig mechanisch
gefahren. Sie redete noch ein wenig mit Frau Müller, ohne bei der Sache zu
sein. Schließlich verabschiedete sie sich. Sie fühlte sich, als hätte sich ihr
Geist völlig vom Körper getrennt.
Sie stieg aus dem
Auto, ging zum Haus und drückte die schwere alte Holztür mit dem Schnitzwerk
auf. An der Wand des langen, gefliesten Gangs stand ein Stuhl. Ein alter
Holzstuhl, wie es sie zu Tausenden gab. Daneben lümmelten zwei Paar mistverdreckte
Gummistiefel. Darüber hing ein kleines Kruzifix. Die Tür zur Küche klappte auf,
der Bauer Karl trat heraus, barfuß, in einem Baywa-Thermohemd, die Hosenträger
verrutscht. Er wartete. In seinem runzligen, wettergegerbten Gesicht standen
klare, offene Augen.
»Griaß di, Karl.«
Jos Stimme erstarb, sie hätte sich am liebsten auf den Stuhl gehockt und
geheult und ihm alles erzählt, alle Pein ausgekotzt in den Gummistiefel.
Der Bauer trat einen
Schritt auf sie zu. »Wo hurets denn, Frau Doktr?«
Tja, woran krankte
es? Nicht an der Bandscheibe, die hätte der Karl heilen können.
»Ach, Karl«, Jo
seufzte, »wenn das so einfach zu erklären wäre.«
Er schenkte ihr
einen langen Blick. »Komm, Föhl, hock na«, und ging voran in die Stube. Das war
ein großer Vertrauensbeweis, denn sein Ordinationsraum war der Gang, nicht
seine Stube. Er dirigierte Jo zur Ofenbank des Kachelofens und schenkte ihr
einen Obstler ein. Sie schwiegen lange.
»Hat der Martl den
auch getrunken?« Jo fasste sich ein Herz.
»Bisch deshalb
kumma, was dr Martl allat trinkt?«
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