Schussfahrt
übrigens auch.«
Jo wurde rot und
blickte auf die Trümmer ihres Selbstbildes. »Wieso aber waren meine eigenen
Bewertungen ganz anders? Wieso war ich dauernd unglücklich und erinnere mich an
die überschatteten Abschiede von irgendwelchen Typen, nicht aber an die guten
Zeiten?«
Patrizia spielte mit
ihrem Löffel. »Tja, warum, Jo? Verzeih mir, dass ich so ehrlich bin. Weil du
ein klein bisschen arrogant bist. Weil du eine kleine Egoistin bist. Weil du
nicht genau hingesehen hast. Auch im Hinblick auf Marcel. Du hast ihn doch
gewollt!«
Das stimmte. Als Jo
ihn bei einer Redaktionsfeier näher kennen gelernt hatte, war sie fasziniert
gewesen. Sie hatten über Bücher geredet, waren bald darauf ins Theater, in
»Hekabe«, gegangen, und Jo war dieser Intellektuelle wie Balsam auf ihrer Seele
erschienen.
»Du warst verliebt
in die Idee einer perfekten Liebe und hast nach einem Kandidaten gesucht. Du
hast ihn bekommen, du bekommst ja immer alle Männer. Du hattest so eine Art
Torschlusspanik, deine biologische Uhr tickte, und da kam Marcel gerade recht«,
sagte Patti gnadenlos.
»Echt, Patti, das
ist jetzt aber schon sehr aus der Laien-Psychologiekiste!«, wehrte Jo ab.
Patrizia nickte
wenig überzeugt. »Möglich, aber du wurdest nicht müde, in beißender Intoleranz über
alle zu lästern, die ein Haus bauten und Kinder kriegten. Ich höre dich noch
reden: Diese Frauen werden dreißig, merken, dass der Beruf ganz schön stressig
ist, und kriegen ein Kind nach dem Motto: Lieber auf das Bambino aufpassen, als
über das eigene Leben nachdenken. Das mag ja auch zum Teil richtig sein, aber
ich habe nie verstanden, weswegen du dich da so reingesteigert hast.«
»Aber ich mag
Kinder. Ich bin …«
Patrizia unterbrach
sie: »Du bist eine perfekte Tante, und wahrscheinlich wärst du eine tolle
Mutter. Weil du Power hast und Ideen. Weil du jung im Herzen bist. Weil du im
Dreck robbst. Weil Jos kleiner Tiergarten sowieso jedes Kind entzückt.
Vielleicht kriegst du ja selbst mal eins, und sei es mit fünfundvierzig. Das
wäre dann dein persönliches Timing, aber lass doch den andern das ihre. Was
glaubst du wohl, warum Marcel und ich nichts von dem geplanten Haus erzählt
haben? Weil du uns sofort dumm angemacht hättest.«
Jo schaute betreten.
Sie fühlte sich ertappt. »Ach, Patti, ich habe auch ihn geliebt, nicht bloß
eine Idee. Ich bin auf einmal gefallen, einfach in mich selbst gesackt und
watteweich gelandet. Er hat Gedanken ans Licht befördert, die lange ein
Schattendasein geführt haben. Ich war glücklich.«
Patrizias Lächeln
war noch immer bitter. »Ja, solange ihr zu zweit wart. Wenn ihr in der
Öffentlichkeit aufgetaucht seid, bist du nie zu ihm gestanden. Du hast Ausreden
gesucht. Es mag schon stimmen, dass ihr gute Gespräche führen konntet, aber
draußen, da hat er dir eben nicht den Pfad geglättet und keinen flauschigen
Teppich hingelegt. Er konnte dein Auto nicht reparieren, er hat keine
Wasserkästen geschleppt, er fuhr nicht Mountainbike durch elend schlammige
Wege.«
Jo schluckte erneut.
Patrizias Analysen waren so treffend, dass es ihr fast die Sprache verschlug.
Aber sie musste sich
wehren. »Ich weiß auch, dass ich ihn nicht immer nett behandelt habe. Auch mein
Abgang war nicht gerade rühmlich. Aber es war phasenweise ungeheuer schwer, an
Marcel überhaupt heranzukommen. Als seine Mutter gestorben ist, stand ich vor
der Mauer seiner Ablehnung. Er lag tagelang auf dem Bett, von düsterer
Klaus-Nomi-Musik umgeben, dem Dämon Depression so viel näher als der Welt. Ich
habe mich bemüht, aber er hat nichts mehr wahrgenommen, nicht meine
Annäherungen, nicht …«
»Ja, Jo, du hast
dich bemüht und ihn damit überfordert. Du hast ihm wieder mal dein Timing
aufgezwungen. Du hast entschieden, wann die angemessene Zeit zur Trauer
verstrichen war. Dein Zeitfenster, deine Energie. Und als er nicht reagiert hat
auf dein Entertainment-Programm, hast du agiert, als könntest du dich
anstecken. Du hattest Angst, dich mit seiner depressiven Stimmung zu
infizieren.« Patrizia war offenbar entschlossen, nicht nachzugeben.
»Hat er das gesagt?
Woher kommen deine tiefen Einblicke?« Jo wurde langsam wieder etwas zynisch.
»Lass uns vernünftig
weiterreden. Bitte! Was glaubst du wohl? Ich war wieder mal die Trösterin. Er
hat erzählt, ich habe zugehört. Du bist ja lieber nach Chile gefahren.«
»Aber Marcel hat mir
zugeraten«, wiegelte Jo ab.
»Ja, natürlich hat
er. Das ist seine Art. Aber er
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