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Schussfahrt

Schussfahrt

Titel: Schussfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Förg
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plötzlich sehr tief durch. »Ich werde morgen wieder nichts
zerreißen, da kann der Karl noch so sehr versuchen, mich aufzubauen. Die
Strecke liegt mir einfach nicht.« Er wand sich unter ihrem Arm heraus und zog
sich an. Er lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Eine Zärtlichkeit,
zu der er sich selten hinreißen ließ. »Bist du böse, wenn ich gehe?«
    Sie hatte den Kopf
geschüttelt – wann war sie denn jemals böse gewesen? Nur tieftraurig.
    Jo erinnerte sich
noch gut an die Szene. Er hatte damals von Karl gesprochen. Er konnte nur den
Bauern Karl meinen, der eine letzte Bastion einer alten Zeit war, die noch dem
Lauf der Jahreszeiten und der Gestirne folgte. Im ersten Moment schien der
Bauer Karl zwar eine abwegige Spur zu Martl zu sein, aber auch Martl musste
wohl irgendwo hinter seiner undurchschaubaren Heldenfassade das Echte gespürt
haben. Der Karl war verschwiegen und lebte weit außerhalb von Martls
maskenhafter Welt, auch das machte ihn vertrauenswürdig.
    Den Bauern Karl, den
musste sie aufsuchen!
    Zum zweiten Mal
heute an diesem nasskalten Sonntag startete sie den Justy. Diesmal sprang er
an.
    »Danke, du tückische
Rostlaube«, sagte Jo und nahm es als gutes Omen. Sie fuhr an. Gedankenfetzen
verwirbelten sich, bildeten Knoten, lösten sich auf. In ihrem Kopf war ein
Vakuum. So völlig unvorbereitet konnte sie unmöglich beim Bauern Karl
auftauchen. Was hätte sie denn sagen sollen? Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie
griff zum Handy und rief Frau Müller an. Die war hocherfreut und gab ihrem
Bedauern Ausdruck, dass Schorsch Obermaier ihretwegen im Gefängnis gesessen
hatte. Jo tröstete sie wortreich und fragte dann: »Sie gehen doch manchmal zum
Bauern Karl?«
    Frau Müller, die
angesichts Jos komischer Fragen nie überrascht zu sein schien, war sofort
mitten im Erzählen. »Ja, ein Besuch beim Karl kam mir am Anfang abwegig vor,
aber gegen meine Rückenschmerzen hat einfach nichts mehr geholfen. Ich war bei
ungefähr fünf Orthopäden, ich war sogar in Augsburg im Klinikum, da haben die
mich durchs CT geschoben. Ich
wurde akupunktiert, mit Laser beschossen und von zahllosen Chiropraktikern
verbogen. Nichts half, nein, es wurde immer schlechter. Mein Physiotherapeut
wollte mich schon zum Psychiater schicken. Stellen Sie sich so was mal vor!
Niemand konnte sich meine plötzlichen Kreuzschmerzen erklären. Und dann hat mir
eine Freundin gesagt, ich solle es doch mal beim Karl versuchen. Er hätte
heilende Hände.«
    Jo überlegte kurz.
»Ich weiß, das habe ich auch mal von meiner Mutter gehört. Sie hat da auch so
eine Adresse, auf die sie schwört. Dieser Mann hat sie dreimal behandelt, und
wie durch Zauberhand war alles weg.«
    Frau Müller klang
geschäftig: »Ja, wo Orthopäden spritzenwirbelnd versagen, dort, wo man Voltaren
nur noch so reinstopft und keine Besserung merkt, da helfen solche Menschen. Am
Anfang war ich richtig wütend. Ich dachte: Ja, aber warum um Himmels willen
beschäftigen sich Orthopäden nicht auch mit solchen Methoden. Aber dann habe
ich es langsam begriffen. Es geht oft um einen Millimeter, den ein Wirbel
verschoben ist. Das spürt nur, wer eine Gabe hat und sich die Zeit auch nehmen
will.«
    »Klar, bei den
Ärzten tickt die Uhr. Wenn ein Patient länger als die veranschlagte Zeit im
Behandlungszimmer zubringt, dann ist nichts verdient. Es ist ja ein Wahnsinn,
was das Abrechnungssystem der Ärztekammer und der Krankenkassen da anrichtet«,
antwortete Jo.
    Frau Müller lachte.
»Beim Bauern Karl ist das Behandlungszimmer der Gang zum Stall. Da tastet er
Rücken ab und das durch alle Kleidungsstücke. Er biegt die Leute über einen
alten Stuhl. Alles sehr sanft. Dann sagt er: ›Zerscht duts no weh, aber morga
isch besser, übermorga isch vorbei.‹ Und das stimmte bei mir, nach zwei Tagen
war der Schmerz weg. Er hat wirklich Zauberhände.«
    »Diese Menschen
haben die Gabe, jahrhundertealtes Wissen wiederzubeleben. So etwas ist nur im
Allgäu möglich. Das Allgäu soll eine geomorphologisch hochsensible Region mit
sehr vielen Verwerfungen und Wasseradern sein. Das Land hat mit Sicherheit eine
sehr starke Wirkung auf die Menschen, und früher haben die Menschen das als
Teil ihres Lebens auch anerkannt. Sie waren feinfühliger und haben Fähigkeiten
entwickelt, mit und in diesem Land zu leben. Denken Sie an die vielen
Rutengeher hier bei uns, die Steinkundigen, das ist ja eigentlich alles gar
keine Hexerei, sondern hat was mit Einfühlsamkeit zu tun. Und Demut,

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