Schusslinie
Hintergründen interessiert,
doch konnten ihm seine Freunde nicht mehr berichten, als was in den letzten Wochen
in der ›Geislinger Zeitung‹ gestanden war. Ein Mann, der mit verschränkten Armen
hinter den Sitzenden stand, ergänzte: »Es sieht ganz danach aus, als hätt die Kripo
keine Spur. Jedenfalls lasset Se nix durchsickra.«
Jürgen bestellte eine weitere Runde, für sich
jedoch eine Cola, was er mit dem Hinweis begründete, noch fahren zu müssen. Dann
lauschte er den vielen Gerüchten, die über die Verbrechen kursierten, und war entsetzt
über die Spekulationen, die einige überregionale Zeitungen angestellt hatten, wonach
auch er in irgendeiner Weise in die Angelegenheit verwickelt sein könnte. Nachdem
sie mit den gefüllten Gläsern noch einmal angestoßen hatten, meinte er: »Wenn ihr’s
niemandem weitererzählt, sag ich euch, dass mich dieser Kommissar – i glaub, der
heißt ›Häberle‹ – daheim in Kalifornien angrufa hat.« Seine Zuhörer staunten.
Wenig später drehten sich die Gespräche wieder
um längst vergangene gemeinsame Zeiten und um den Wunsch, sich künftig regelmäßig
irgendwo zu treffen. Es war kurz vor Mitternacht, als Jürgen beim Wirt höchstpersönlich
die Zeche bezahlte und von seinen Freunden herzlich verabschiedet wurde. Auch viele
der anderen Gäste schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm viel Erfolg. »Wir können
dich allein fahren lassen?«, fragte der Wirt und schlug ihm freundschaftlich auf
die Schulter.
»Klar doch«, erwiderte Jürgen, »in einer Stund
bin i bei meiner Mutter in Stuttgart – kein Problem.« Noch einmal strahlte er in
die Runde, hob beide Arme zum Abschiedsgruß, und trat in die Sommernacht hinaus.
Wie sehr genoss er die Stille dieser Kleinstadt, diese Beschaulichkeit, diese Frische!
Oft schon hatte er, wenn er in kalifornischer Sonne am Strand des Pazifiks lag,
an die vernebelte Albkante gedacht, an das raue Klima auf den Hochflächen oder an
die Fußballjugend im Eybacher Tal. Wann immer er hierher kam, zu den Freunden von
damals, heimlich und ohne den fürchterlichen Medienrummel, dann hatte er das Gefühl,
daheim zu sein. Hier kannte er jede Gasse, jedes Örtchen – schließlich war er nur
knapp sieben Kilometer von Geislingen entfernt aufgewachsen, in Gingen, wo sein
erst kürzlich verstorbener Vater eine Bäckerei besessen hatte, ehe die Familie in
den Stuttgarter Vorort Botnang umgezogen war.
Der blonde Mann mit dem strahlenden Lächeln
verließ das Lokal durch jenen Ausgang, der in die engen Seitengässchen der Geislinger
Altstadt führt, wo um diese Zeit kein Mensch mehr unterwegs war. Motorengeräusch
drang an sein Ohr, er glaubte auch Schritte zu hören. Seltsam, dachte er, so eine
ruhige Innenstadt hatte er seit Monaten nicht mehr erlebt. Er genoss dieses Gefühl,
sich ganz unbehelligt und ohne von Journalisten verfolgt zu werden, frei bewegen
zu können. Er hasste ohnehin den ganzen Rummel und den Personenkult, der allerorten
veranstaltet wurde. Hier in Geislingen, seiner früheren Wirkungsstätte, war alles
noch so, wie damals in den 70-er Jahren. Und zur örtlichen Tageszeitung scheute
er eh den Kontakt.
Der Mann bog um die nächste Ecke nach rechts,
um zur Fußgängerzone zu gelangen, über die er das Parkdeck erreichen würde, auf
dem er seinen Audi A 4 abgestellt hatte. Er brauchte keine Angst zu haben, von einer
Schar wildgewordener Fans behelligt zu werden. Jetzt, gegen Mitternacht, war nichts
los. In den meisten Schaufenstern der kleinen Einzelhandelsgeschäfte brannte kein
Licht mehr, auch die Kandelaber auf der gepflasterten Straße schienen auf Sparflamme
geschaltet zu sein. Er eilte durch die schnurgerade Fußgängerzone, sah links die
hübsche, verspielte Fassade des Alten Rathauses, rechts ein mit Baugerüst umgebenes
Haus und ein Stück weiter vorne den majestätisch aufragenden Fachwerkbau des Alten
Zolls. Noch hundert Meter entfernt, direkt vor ihm, erhob sich der Querbau des Sonne-Centers,
dessen blaugelbe Lichtreklame ihm entgegen strahlte. Gerade, als er am Elefantenbrunnen
vorbeikam, an dem das Wasser seit Stunden abgestellt war, bemerkte er plötzlich
die dunklen Gestalten, die auf den Eingangstreppen des TUI-Reise-Centers und einer
Buchhandlung saßen. Für einen Moment zögerte er, doch dann ging er entschlossenen
Schritts weiter. Es waren fünf junge Männer, die auf den Stufen lungerten, Zigaretten
rauchten und mehrere Bierflaschen neben sich stehen hatten. Als er an ihnen vorbei
kam, hörte er
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