Schusslinie
Saal.
»Und was ist mit den Morden?«, rief eine erregte
Männerstimme.
Häberle kam instinktiv mit dem Kopf näher an
die Lautsprecher heran. Doch einzelne Stimmen waren aus dem anschwellenden Geschrei
nicht mehr auszumachen. Drei, vier Minuten hielt die feurig geführte Debatte an.
Dann erst kristallisierte sich Gangolfs Stimme wieder heraus: »Bitte Ruhe, meine
Herrschaften. Erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, als ob alles schon gestorben
wär.«
»Ist es doch schon«, schallte es ihm entgegen.
Häberle sah den Augenblick des Eingreifens für gekommen. Er drückte an einem seiner
Geräte eine Taste. »In einer Minute Zugriff«, befahl er ruhig, »ab jetzt.«
73
Die Männer im Kellner-Outfit wuselten über den hell erleuchteten Gang.
Draußen im menschenleeren Burghof parkten einige Kombis mit schwarz getönten Scheiben.
Vor dem Zugangstor hielten sich einige junge Männer auf, die an diesem lauen Herbstabend
auch Ausflügler hätten sein können. In der Dunkelheit konnte niemand sehen, dass
sie winzige Ohrhörer trugen, von denen ein dünnes Kabel im Hemd verschwand. Sobald
das Kommando erteilt wurde, würden sie aus Sicherheitsgründen die Straße sperren.
Dann durfte niemand mehr die Burganlage betreten.
Entlang der bergabwärts gewandten und zwei
Stockwerke tiefer reichenden Fassade des Hotels waren ebenfalls einige Männer in
Position gegangen. Sie hatten sich in die Schatten zurückgezogen, die die Sträucher
im gelblichen Licht der Strahler warfen, mit denen das Gebäude von außen beleuchtet
wurde.
»Noch 30 Sekunden«, krächzte Häberles Stimme
in den winzigen Ohrhörern. Er selbst war nach diesem Kommando aufgesprungen, warf
einen Blick durch das Fenster in die nachtschwarze Ferne hinaus und fühlte sich
von einer plötzlichen Stille umgeben, die ihn an die sprichwörtliche Ruhe vor dem
Sturm erinnerte.
Der Bundestagsabgeordnete Klaus Riegert entspannte sich an diesem Freitagabend
zu Hause, gerade mal vier Kilometer entfernt. Die zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfes
hatten ihm zugesetzt und er war froh, jetzt ein paar Tage für sich und seine Familie
zu haben. Seine Frau hatte ein deftiges Vesper serviert, dazu einen Most, den er
während der Wahlkampf-Tour von einem Bauern aus dem Voralb-Gebiet geschenkt bekommen
hatte. Er war noch einmal in sein kleines Büro gegangen, um die neuesten Mails zu
lesen. Darunter befanden sich wieder jede Menge Glückwunschschreiben zur Wiederwahl.
Immerhin würde nun schon seine vierte Amtsperiode beginnen. Das Telefon klingelte
und er meldete sich. Aus dem Hörer drang eine energische Frauenstimme.
»Herr Riegert – sind Sie das?«
»So ist es – und wer sind Sie?«, entgegnete
der Abgeordnete. »Hören Sie zu!«, fuhr die Frau fort. »Fahren Sie nach ›Staufeneck‹.
Das sollten Sie sich als Politiker unbedingt ansehen.« Sie machte eine Pause, doch
Riegert war derart überrascht, dass er sie nicht zu einem Einwand nutzen konnte.
»Es wird Sie interessieren«, wiederholte die Frau, »es wird Sie interessieren –
als Politiker und als Polizist.«
Riegert war aufgesprungen und schaute durch
das Fenster in die Nacht hinaus. Am Himmel waren die Landescheinwerfer eines Flugzeugs
zu sehen, das den Stuttgarter Flughafen anflog. »Und wer sind Sie?«
»Das werden Sie sehen. Bis nachher«, kam es
zurück, unpersönlich, bestimmend, herrschsüchtig. Dann war die Leitung tot.
Der Politiker hielt den Hörer noch für ein
paar Sekunden irritiert in der Hand. Er zögerte einen weiteren Augenblick, doch
dann gewann der Polizist in ihm die Oberhand. Riegert stieg in die Wohnung hinab
und überzeugte seine Frau davon, dass er sehen wolle, was auf ›Staufeneck‹ geschehe.
Sie deutete auf ihre Armbanduhr. »Du, es ist fast elf. Ich find es nicht gut, wenn
du allein da rauffährst.«
Er schlüpfte bereits ins Jackett und drückte
seiner Frau einen Kuss auf den Mund. »Du hast Recht, ich ruf mal meine ehemaligen
Kollegen an.«
Im Auto ließ er das Handy in die Freisprechanlage
rasten und wählte die Nummer des Göppinger Polizeireviers. Während er den Wagen
auf die Straße rangierte, meldete sich die Stimme des Dienst habenden Beamten. Nachdem
Riegert erklärt hatte, worum es ging, wurde er sofort zur Kriminalpolizei weiterverbunden.
Er staunte, dass dort offenbar zu dieser späten Stunde jemand saß.
Riegert steuerte über Wohnstraßen aus dem Ort
hinaus in Richtung Salach. Unterdessen meldete sich im Lautsprecher eine Männerstimme,
die
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