Schuster und das Chaos im Kopf - Kriminalroman
sich gerade vom Grab seiner Frau entfernte, nickte dem verschnupften Hauptkommissar zu und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.
Schuster kam sich wie ein Trampel vor, weil er Stolze auf der Beerdigung seiner Frau belästigt hatte.
Dafür kommst du in die Hölle ...
Mit zusammengekniffenen Augen starrte er in den schmuddeligen Spiegel, nachdem er sich zweimal hintereinander die Hände gewaschen hatte. Seine Augen waren trüb, und die dunklen Ringe darunter kein Wunder. In den letzten Wochen hatte er selten eine Nacht durchgeschlafen. Seine Nase war feuerrot angelaufen.
Er musste sich zwingen, den Wasserhahn nicht noch mal aufzudrehen, stieß einen tiefen Seufzer aus und stapfte ins Büro. Unterwegs nieste er viermal hintereinander.
Grätsch saß am Schreibtisch.
»Zwei Leute glauben, irgendwas gesehen zu haben. An dem Abend, als Heidi Stolze umgebracht wurde. Hast du dich erkältet?«
Schuster holte zwei Tassen aus dem Schrank und schenkte Kaffee ein. Er reichte Grätsch eine. »Und was haben sie gesehen?«
Sein Kollege stöhnte auf. »Ein Mann will vom Fenster seiner Wohnung aus ein Auto gesehen haben. Dunkel, vielleicht ein Kombi. Sicher ist er sich aber nicht. Soll am Bürgerpark geparkt haben. Mehr weiß er nicht. Du siehst aus, als hättest du dir was eingefangen.«
»Kennzeichen?« Genau darüber, wann, ob und wo er sich etwas eingefangen hatte, wollte Schuster nicht nachdenken.
»Irgendwas mit HB.« Grätsch verzog das Gesicht.
»Na, das nenn ich mal ein Mordsgedächtnis«, meinte Schuster trocken.
»Es kommt noch besser. Eine alte Dame will einen Mann mit langem Mantel und Hut in der Nähe des Fundorts gesehen haben. Sie war gerade mit ihrem Hund Gassi, und der Mann soll dagestanden und auf irgendwas gewartet haben.«
Schuster sog scharf die Luft ein. »Auf den ersten Blick passt alles wunderbar zusammen. Ein dunkler Wagen, der Fahrer wartet, dass zufällig eine Joggerin vorbeikommt, nimmt ein Messer aus der Manteltasche, sticht auf sie ein, steigt ins Auto und weg ist er.« Er verschränkte die Armen im Nacken. »Keine Reifenspuren, nichts. Tatsache ist, dass Stolze vielleicht ein Motiv hatte. Und dummerweise kein Alibi.«
Grätsch knurrte: »Du kannst es nicht lassen, was? Du beißt dich da in was fest, Heiner.«
Schuster unterdrückte mühsam ein herzhaftes Gähnen und presste seinen Kiefer zusammen. »Stolze sagt, seine Frau sei etwas impulsiv gewesen. Unbeherrscht nenne ich es einfach mal. Sie schmeißt wieder mal mit einer Tasse, und er hat ein für alle Mal die Faxen dicke. Und außerdem hat er möglicherweise eine Geliebte. Seine Frau war ihm vielleicht im Weg. Ist das so abwegig? Immerhin sind die meisten Morde Beziehungstaten.«
Sein Kollege musterte ihn. »Und dann nimmt er vorsichtshalber auch gleich noch den zweiten Schuh mit? Als Andenken? Wirklich, Schuster ...«
»Hmmm«, machte Schuster. »Die Zeugenaussagen habt ihr wahrscheinlich längst überprüft.«
Grätsch winkte ab. »Die Frau mit dem Hund ist stark kurzsichtig, trägt eine Brille mit Gläsern dick wie Colaflaschen, ist weit über siebzig und hat meines Erachtens eine blühende Fantasie. Ich glaub, sie ist ein bisschen einsam, Heiner. Eine alte Dame, die froh ist, dass mal jemand mit ihr redet. Der Kerl, der einen dunklen Wagen gesehen haben will, hat zugegeben, dass er kurz zuvor eingenickt war, während er einen Krimi im Fernsehen geguckt hat.«
»Scheint nicht …«, Schuster musste ein paar Mal laut niesen, » … sehr spannend gewesen zu sein.«
Grätsch schob seine leere Tasse mit Schwung über den Tisch.
»Vitamin C«, sagte er dann.
Schuster blickte ihn verwundert an. »Was ist mit Vitamin C?«
»Soll prima helfen, wenn man sich was eingefangen hat. Am besten hilft’s, wenn man sofort was davon nimmt. Also gleich, wenn man bemerkt, dass man ...« Grätsch winkte ab, als er sah, dass sein Kollege verstanden hatte.
»Aha«, machte Schuster. Natürlich wusste er das. Er war Experte in Sachen Vitamine, ob nun C oder B6, B12 oder weiß der Teufel was. Schließlich gehörten sie seit Jahren beinah zu seinen Grundnahrungsmitteln.
»Ein dunkler Wagen ... hmmm ...« Er kaute an seinem Stift.
Sein Kollege Florian Lahm erschien in der Tür, das Hemd aus der Hose, die Haare verwuschelt und unterm Arm ein Stapel Papier. Die Ringe unter seinen Augen waren auch nicht übel.
»Gibt’s hier noch Kaffee? Es gibt Neuigkeiten, wenn auch nur winzig kleine.« Er setzte sich auf Grätschs Schreibtisch. »Der Mann, der
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