Schutzengel mit ohne Flügel
Herzklopfen verursachenden Wink bekommen, nach Helsinki zu fahren – im Traum war ihr ein vierzigjähriger, ansprechend aussehender Mann erschienen, der in der Mechelininkatu ein Antiquariat gegründet hatte.
Ritva Nuutinen wunderte sich durchaus nicht über die Detailliertheit und Präzision der Anweisungen, die sie im Traum erhalten hatte. Sie war ein gläubiger Mensch, und für sie waren Gottes Wunder klar verständlich und keineswegs unergründlich. Im Traum hatte sich ein Bekannter an sie gewandt – der vor einiger Zeit verstorbene Religionslehrer Sulo Auvinen, der ihr erzählt hatte, dass er der Schutzengel jenes besagten Mannes sei und dass er sie und ihn miteinander bekannt machen wolle. Auf diese Weise hatte Sulo Auvinen die Sache eingefädelt, und jetzt war Fräulein Nuutinen also in Helsinki und betrachtete gedankenverloren ihren Auserwählten. Eine angenehm wirkende Erscheinung, in der Tat. Was würde dieser Mann wohl sagen, wenn er wüsste, was ihr Anliegen war? Nun, das würde er schon noch herausfinden, jetzt war erst mal Vorsicht geboten. Der erste Kontakt kann manchmal das ganze Match entscheiden. Auf der Bahnfahrt hatte Ritva Nuutinen genügend Zeit gehabt, mehrere Alternativen zu entwickeln, wie sie sich in dem Antiquariat verhalten wollte. Sie verfügte, resultierend aus ihrer Lehrtätigkeit, über ein sicheres Auftreten, und sie hatte sich gründlich auf die Begegnung vorbereitet. Parfüm, eine schöne Frisur, ein schickes Jackenkleid und natürlich Strümpfe, Schuhe und Bluse, alles saß tipptopp an der zielstrebigen Trägerin.
In der Mechelininkatu plauderte Ritva Nuutinen dies und das und beobachtete dabei Aaro Korhonen wie auch Viivi Ruokonen. Das kleine Schäfchen hantierte im Café und zwischen den Bücherregalen, als wäre sie die Besitzerin. Nun, die Zeit würde zeigen, welche Stellung das Mädchen in diesem Laden hatte. Ritva Nuutinen hatte sich bereits im Zug fest vorgenommen, nicht so leicht aufzugeben. Sie fühlte, dass sie einen inneren Auftrag erhalten hatte, der ihr ungeheuer entgegenkam. Sie war bisher von männlichen Einflüssen verschont geblieben – wenn auch nicht in jeder Hinsicht, so doch im Sinne einer dauerhaften Bindung. Inzwischen hatte sie ein Alter erreicht, in dem es höchste Zeit für die entsprechenden praktischen Schritte wurde, wenn sie wenigstens noch ein paar Jahre vor ihrem Tod mit einem männlichen Wesen zusammenleben wollte. Mindestens Hundert auf verschiedenste Art unsympathische Kerle hatte sie im Laufe ihres Lebens abgewiesen.
Gar so berechnend war Fräulein Ritva Nuutinen nicht, wenn auch nicht wirklich anders. Sie hatte eine streng religiöse Weltanschauung sowie einen deutlichen Hang zu Mystik und Mythologie. In jungen Jahren hatte sie sich mit allerlei unschuldigen Geheimlehren wie Spiritismus und Wahrsagen beschäftigt, hatte sich aber auch von satanistischen Ritualen, wie sie die heutige Jugend veranstaltet, angezogen gefühlt. Diese Idee hatte sie sich allerdings entsetzt verboten. Sie hatte verwundert konstatiert, dass der Satan offenbar Zeit und Muße für allerlei Nichtigkeiten hatte, wenn er eine gewöhnliche Lieksaer Grundschullehrerin zu der Schar seiner Jünger locken wollte.
»Sie haben ausgezeichneten Kuchen, woher stammt er?« Fräulein Nuutinen kostete von dem Obstkuchen, den Viivi ihr abgeschnitten hatte und der tatsächlich ein wunderbares Aroma hatte und leicht und reichhaltig zugleich war.
Viivi erzählte ihr, dass der Kuchen aus Kaivopuisto von Konditor Ahlenius kam. Die Sandwichs machte sie selbst aus frischem Baguette und Aufschnitt.
Aaro Korhonen ordnete indessen Bücher. Aus den Augenwinkeln warf er ab und zu einen Blick zu der Kundin, die die Beine übereinandergeschlagen hatte, wie es manche Frauen zu tun pflegen. Ihre Strümpfe hatten Nähte, und das Oberteil des Jackenkleides stand vorn so weit offen, dass die Spalte zwischen den üppigen Brüsten vielversprechend daraus hervorleuchtete. Trotzdem hatte die Frau etwas Zurückhaltendes. Sie trug eine Brille, ihre Haare waren streng im Nacken zusammengerafft und wurden von einer Spange gehalten. Aaro sagte sich, dass sie möglicherweise eine Stammkundin werden könnte.
Aaros Antiquariat war noch in keiner Weise beworben worden. Trotzdem hatten sich bereits einige Passanten hineinverirrt. Einer hatte eine Tasche mit Büchern gebracht, die Aaro gekauft hatte. Andere hatten sich damit begnügt, die Auswahl im Antiquariat zu prüfen, und als sie festgestellt hatten, dass
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