Schutzengel mit ohne Flügel
sie recht bescheiden war, waren sie wieder gegangen. Aaro machte das nichts aus, er fand es auch nicht schlimm, wenn er den ganzen Sommer hindurch kein einziges Buch verkaufen würde. Er freute sich, dass er endlich mal Zeit zum Lesen hatte und das Sortiment richtig ordnen konnte.
Zerstreut blätterte Aaro in Crane Brintons Werk Ideologien und Menschen. Die Etappen westlichen Denkens. Es war ein ziemlicher Wälzer, mehr als sechshundert Seiten. Der Verlag Otava hatte es, wie er sehen konnte, 1964 publiziert. Aaro überlegte, welchen Preis er dafür verlangen sollte. Frau Väisänen hatte offensichtlich darin gelesen, denn einige Sätze waren mit Bleistift unterstrichen. Kein übles Buch also, was würde ein Kunde dafür bezahlen? Aaro hatte noch keine diesbezüglichen Erfahrungen, und so begnügte er sich damit, auf dem ersten Blatt einen seiner Meinung nach mäßigen Preis von fünfzehn Euro zu notieren. Das Buch hatte schon fast seinen Platz in dem Regal gefunden, an dem Aaro einen Zettel angebracht hatte, auf dem stand: Philosophie – Psychologie – Erziehung – Essays. Aber dann kam die neue Kundin vom Café in den Laden herüber und wünschte eben dieses Buch zu sehen. Sie blätterte eine Weile darin und erklärte, dass er ohne Weiteres zwanzig Euro dafür verlangen könne, denn es handele sich um eine gute Darstellung der ideologischen Strömungen der 60er-Jahre. Wie beiläufig erwähnte sie, dass sie das Werk einst selbst gelesen hatte. Aaro staunte. Wenn die Frau gleich über das erste Buch, das ihr ins Auge fiel, Bescheid wusste, war sie bestimmt ein gebildeter Mensch, oder handelte es sich um einen puren Zufall? Wie auch immer, interessant war das Ganze schon.
Viivi fuhr heftig mit dem Wischlappen über den nagelneuen, glänzenden Tresen. Es bestand keine Notwendigkeit, ihn zu putzen, aber Viivi war in so gereizter Stimmung, dass sie irgendetwas tun musste, und so griff sie eben zum Wischlappen. Sie mochte die verblühte alte Schachtel, die im Geschäft aufgetaucht war, überhaupt nicht. Man sah ihr an, dass sie kein anständiger Mensch war. Als Frau erkannte man so etwas schon von Weitem.
Der Spürsinn der Frauen hin oder her, aber eine gewisse Raffinesse vermochte Fräulein Nuutinen durchaus an den Tag zu legen. Sie bewegte sich unschuldig geschmeidig und scheinbar planlos in Aaros Nähe, achtete aber sorgfältig darauf, dass ihr Körper und ihr Gesicht stets in günstigem Licht und in einer Position erschienen, die sie für den Betrachter vorteilhaft wirken ließen. Eine leise Berührung der Hand beim Zurückgeben des Buches und der Anflug eines verlegenen, aber sinnlichen Lächelns gehörten dazu. Der Duft ihres Parfüms schwebte dezent zwischen den staubigen Bücherregalen, er wirkte einladend, ohne aufdringlich zu sein, zugleich aber auch irgendwie frisch und gesund.
Fräulein Nuutinens Einschätzung zufolge war ein erster Kontakt hergestellt, der jetzt mit sanfter Hand gepflegt werden musste. So war es nicht angebracht, einen direkten Frontalangriff zu starten. Das Mädchen im Café hatte bereits gemerkt, dass sie, Ritva, möglicherweise etwas anderes vorhatte, als nur Kaffee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen.
Ritva Nuutinen zupfte ihr Jackenkleid zurecht und schickte sich an zu gehen. Sie war eine gut aussehende Frau, dessen war sie sich bewusst. Sie hätte durchaus den einen oder anderen Mann abkriegen können, aber irgendwie hatte sie die Sache nicht gepackt. Doch noch hatte sie ja Zeit zu handeln.
»Ihr Café und Ihr Geschäft sind wirklich hübsch. Bestimmt verirre ich mich ein weiteres Mal hierher. Ich besitze eine recht ansehnliche Sammlung älterer religiöser Literatur. Gern würde ich Ihnen gelegentlich einige Bände anbieten, wenn es Ihnen recht ist?«
Aaro Korhonen stotterte, dass er kein ausgesprochener Freund religiöser Werke sei, obwohl die ältere Literatur an sich natürlich zum Angebot des Antiquariats zähle.
»Sie werden sehen, dass ich Ihnen kein x-beliebiges Gefasel und Geschwätz anbiete, sondern niveauvolles christliches Gedankengut und vielleicht auch noch einige Werke mit Bezügen zur Mythologie.«
Ritva Nuutinen verließ das Geschäft in dem Wissen, dass der erste Erkundungsangriff geglückt war. Aaro Korhonen war entwaffnet, jedenfalls vorläufig. Mit Dankbarkeit dachte Ritva Nuutinen an ihren geistlichen Vater und begab sich ins Hotel Helka, wo sie ihr Notizbuch aufschlug und sich daranmachte, die zweite Etappe des Kampfes zu planen.
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NUUTINEN
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