Schutzlos: Thriller (German Edition)
letzten Augenblick natürlich, in dem er nur allzu präsent wird. Ich musste wieder an Rhode Island vor zwei Jahren denken, als er wie aus dem Nichts bewaffnet aus einem Wagen gekommen war, in dem er schlicht unmöglich gewesen sein konnte.
Und in dem er trotzdem gewesen war.
Ich schob meine Umhängetasche höher und kehrte zu dem Nissan zurück. Ich sah mein Spiegelbild in der Scheibe. Da Ryan Kessler ein Detective war, hatte ich mir gedacht, ich würde sein Vertrauen leichter gewinnen, wenn ich mehr wie ein Undercover-Polizist aussah als wie der humorlose Bundesbeamte, der ich so ziemlich bin. Mit meiner Freizeitkleidung, meinem sauber geschnittenen, bräunlichen und schon leicht schütteren Haar und dem glatt rasierten Gesicht sah ich wahrscheinlich aus wie einer der zwei Dutzend Geschäftsmänner und Väter, die ihre Söhne oder Töchter in diesem Moment bei dem Fußballspiel ein Stück weiter in der Straße anfeuerten.
Ich telefonierte über mein sicheres Handy.
»Sind Sie das?«, fragte Freddy.
»Ich bin hier, bei Kessler.«
»Sehen Sie meine Leute?«
»Ja. Sie sind nicht zu übersehen.«
»Was sollen sie machen? Sich hinter den Gartenzwergen verstecken? Wir sind hier in den Suburbs, mein Sohn.«
»Das war keine Kritik. Falls Loving einen Beobachter vor Ort hat, soll er ruhig wissen, dass wir ihm auf der Spur sind.«
»Sie glauben, dass schon jemand da ist?«
»Möglich. Aber niemand wird etwas unternehmen, bevor Loving eintrifft. Gibt es etwas Neues zu seiner Position oder der voraussichtlichen Ankunftszeit?«
»Nein.«
Wo ist Loving jetzt?, fragte ich mich und stellte mir den Highway aus West Virginia vor. Wir hatten ein sicheres Haus, ein gutes, draußen in Luray. Vielleicht fuhr er in diesem Moment gerade daran vorbei.
»Moment«, sagte Freddy, »ich kriege hier gerade was rein … Komisch, dass Sie fragen, Corte. Ich habe ein paar Einzelheiten von dem Team im Motel bekommen. Er fährt eine helle Limousine. Alter, Marke, Modell hat niemand gesehen.«
Henry Loving stimuliert das Vergesslichkeits-Gen. Es trifft aber auch zu, dass die meisten Leute extrem schlechte Beobachter sind.
»Ich würde sagen, es dauert mindestens noch drei Stunden, bevor er auch nur in der Gegend hier ist. Und er wird einige Zeit zur Vorbereitung brauchen, ehe er zu den Kesslers fährt.«
»Schuldet Ihnen bei der Polizei von Virginia irgendwer einen Gefallen?«, fragte ich.
»Nein, aber ich bin so ein liebenswerter Mensch, dass sie tun werden, worum ich sie bitte.«
Ich habe Probleme mit Freddys flapsigem Ton. Aber in diesem schwierigen Geschäft muss jeder sehen, wie er durch den Tag kommt.
»Können Sie der Staatspolizei sein Bild zukommen lassen? Sie sollen es an alle Wagen zwischen hier und West Virginia schicken, Code Orange.« Die Beamten auf Streife würden eine Computermeldung bekommen und nach hellen Autos mit einem
Fahrer, auf den Lovings Beschreibung passte, Ausschau halten. Code Orange bedeutete, dass er gefährlich war.
»Ich mache es, aber … Sie sind doch ein Mathegenie, Corte.«
»Und?«
»Teilen Sie eine Million Autos durch vierzig Streifenbeamte. Was kommt heraus?«
»Danke, Freddy.«
Wir beendeten das Gespräch, und ich rief Ryan Kessler an.
»Ja?«
Ich sagte ihm, wer ich war und dass ich eingetroffen sei. Ich würde in einem Moment an seiner Haustür sein. Ich wollte, dass er Freddy anrief und sich nach meinem Aussehen erkundigte. Das war eine gute Sicherheitsmaßnahme, aber ich tat es auch, um seine Verfolgungsangst zu erhöhen. Kessler als Polizist – und dekorierter Straßenpolizist dazu – würde ein widerspenstiger Mandant sein, und ich wollte, dass er spürte, wie echt die Gefahr war.
Schweigen.
»Sind Sie noch da, Detective Kessler?«
»Wissen Sie … Ich habe Agent Fredericks und diesen Männern da draußen schon gesagt … Jetzt sehe ich Sie auch, Agent Corte. Ich habe ihnen gesagt, dass das nicht nötig ist.«
»Ich würde trotzdem gern mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Er versuchte erst gar nicht, seine Verärgerung zu verbergen. »Das ist wirklich Zeitverschwendung.«
»Ich würde es sehr zu schätzen wissen«, sagte ich freundlich. Ich neige dazu, übertrieben höflich zu sein – steif, wie viele Leute behaupten. Aber mit einer ruhigen, klaren Haltung erreicht man eher, dass die Leute kooperieren, als mit Poltern, was ich ohnehin nicht beherrsche.
»Also gut. Ich rufe Agent Fredericks an.«
Ich fragte ihn außerdem, ob er bewaffnet
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