Schutzlos: Thriller (German Edition)
Und es hätte ja funktionieren können. Wenn wir hinten rausgegangen wären, wie er es wollte, wäre es das gewesen. Dann würden sie jetzt unsere Nachrufe schreiben, und Kessler hätte Bambus unter den Fingernägeln. Oder wahrscheinlich eher seine Frau. Ach ja, hier noch meine Meinung zu der Schwester, mein Sohn: Sie ist eine Schande für alle Blondinen.«
»Unser nächster Schritt?«
»Den Auftraggeber finden.« Ich hatte zu Ryan zwar gesagt,
dass er möglicherweise irrtümlich zum Ziel geworden war, aber ich glaubte es nicht. Solche Fehler machte Henry Loving nicht. Ich wollte herausfinden, wer ihn angeheuert hatte und über welche so eminent wichtigen Informationen Ryan verfügte. Ich sagte zu Freddy, ich würde danach zu forschen beginnen, und beendete das Gespräch.
Sobald ich aufgelegt hatte, läutete es schon wieder, und meine akustische Anruferkennung sagte mir die Nummer vor. Es war Staatsanwalt Westerfield. Er hatte wohl erfahren, dass sein Polizeiheld, sein Starzeuge in einem Fall, den es noch gar nicht gab, mitten in einer Schießerei in Fairfax County beinahe entführt worden wäre. Westerfield war der letzte Mensch, mit dem ich im Augenblick sprechen wollte. Ich meldete mich nicht.
Ich bemerkte, dass Kessler in den Außenspiegel starrte.
»Detective Kessler?«, sagte ich.
»Nennen Sie mich Ryan.«
»Okay, Ryan. Danke, dass Sie unsere Flanke am Haus gedeckt haben. Waren Sie mal in einer SWAT-Einheit?«
»Nein, ich habe nur auf der Straße gearbeitet. Man schnappt alles Mögliche auf.« Er war kleinlaut – um ein Haar hätte er seinen Nachbarn erschossen. Er blickte ständig in den Rückspiegel und hielt seinen Revolvergriff so fest wie ich das Lenkrad.
Die Atmosphäre im Wagen war düster, still. Ich war jetzt ebenfalls ruhiger, dachte über die Operation nach, versuchte mich in Henry Lovings Lage zu versetzen und herauszufinden, was er als Nächstes tun würde. Ich stellte fest, dass er in relativ kurzer Zeit heimlich aus einem anderen Bundesstaat angereist war, einen vertrauenswürdigen Partner gefunden und sich Waffen besorgt hatte; er hatte seine Reise erfolgreich verschleiert, die Gegend, in der sein Opfer wohnte, gründlich erkundet und den Nachbarn ins Visier genommen, der mutmaßlich am meisten wusste, und er hatte einen riskanten Angriff am helllichten Tag versucht, nachdem er die Polizei mit einer erfundenen
Schießerei in der Uni in die Irre geschickt hatte. Er hatte es riskiert, eine Waffe an einen Verbündeten der Gegenseite herauszugeben – an Teddy Knox.
Die Analyse war hilfreich, aber als würde man in einer frühen Phase des Spiels auf ein Schachbrett blicken, lieferte sie mir nur eine vage Idee seines Plans; es gab immer noch eine unendliche Vielzahl an Strategien, für die er sich entscheiden konnte.
Joanne schüttelte den Kopf und hielt ihre Handtasche fest umklammert, auch etwas, das ich häufig bei meinen Mandanten sah. Vertraute Gegenstände boten Trost. »Wenn Sie nicht da gewesen wären …«, sagte sie leise zu mir. Sie sprach wohl ganz allgemein vom Schicksal ihrer Familie, aber dann bemerkte sie, wie ich auch, dass ihre Bemerkung außerdem eine Kritik an ihrem Mann darstellte, der unsere Hilfe zunächst abgelehnt hatte, und sie verstummte. Falls es Ryan aufgefallen war, reagierte er jedenfalls nicht.
Er sah mich einen Moment später an. »Ich möchte Amanda anrufen.«
»Natürlich. Aber erwähnen Sie nicht, wo wir uns befinden.«
Er zog das sichere Handy hervor. Ich erklärte das Gerät, und er machte den Anruf. Er kam auf Anhieb durch und fragte seine Tochter mit ruhiger Stimme nach ihrer Fahrt. Schließlich erklärte er, dass es beim Haus ein kleines Problem gegeben habe. Was immer sie in den Nachrichten hören würde, ihnen gehe es gut.
»Kleines Problem«, sagte Maree und lachte zynisch. »Genau das hat der Kapitän der Titanic auch gesagt.« Die junge Frau öffnete ihre große Umhängetasche, zog einen Stapel Schwarzweißfotos heraus und begann sie zu sortieren. Gut, wenn sie sich beschäftigt, dachte ich. Sie soll Kühe zählen, nach Nummernschildern aus anderen Bundesstaaten Ausschau halten.
Ryan gab das Telefon seiner Frau. Joanne spielte den Zwischenfall gegenüber ihrer Stieftochter ebenfalls herunter, wenngleich es ihr schwerer zu fallen schien, ein heiteres Gesicht aufzusetzen.
Eine Pause, sie hörte zu. »Ich weiß nicht, warum, Schätzchen. Wir werden es herausfinden. Mr. Corte … Agent Corte wird es herausfinden …« Sie lauschte
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