Schutzlos: Thriller (German Edition)
vergraben. Natürlich gab es überall reichlich Videokameras, manche sichtbar, andere nicht. Ich hatte einen unserer Angestellten, die wir Zuschauer nennen, am Morgen aktiviert, damit er mit der Überwachung des Anwesens begann. Unsere Zuschauer sitzen in einem düsteren Raum in West Virginia, beobachten den ganzen Tag lang Monitore und
hören dabei – auch wenn sie es nicht zugeben – sehr, sehr laute Musik, meist von Headbanging begleitet. Das können sie, weil unsere Kameras nicht mit Mikrofonen ausgestattet sind. Das erfordert zu viel Bandbreite. Eines Tages werden wir uns beides leisten können, und dann ist Schluss mit dem Soundtrack. Aber bis jetzt sehen sie Stummfilme vom Grundstück, und dazu dröhnen Def Leppard aus den Lautsprechern.
Ich rief den uns zugeteilten Zuschauer an, und er meldete sich sofort.
»Wir sind hier«, sagte ich, obwohl er das wusste, da er uns bereits seit fünf Minuten sah.
Alles war still, berichtete er. Er hatte nichts Verdächtiges gesehen.
»Wo sind die Hirsche?«
»Wo sie hingehören.«
Wegen meines Jobs und einiger anderer Aspekte meines Lebens hatte ich eine Menge über Wildtiere gelernt – zum Beispiel, wovor sich Hirsche und andere Tiere fürchten und warum. Ich habe meinen Zuschauern – und meinen Zöglingen – immer eingeschärft, auf Muster im Verhalten von Tieren zu achten, die ihnen Hinweise auf ein Eindringen liefern könnten. Ein nervöser Dachs hat vor einem Jahr das Leben eines meiner Mandanten gerettet, indem er uns auf die Anwesenheit eines Killers aufmerksam machte. Ich habe sogar auf Konferenzen schon Vorträge zu diesem Thema gehalten.
»Auch keine komischen Sachen mit dem Verkehr in der Nähe«, bemerkte der Zuschauer mit näselnder Stimme. Ich hatte den Mann nie kennengelernt, aber ich konnte ihn mir gut vorstellen. Angesichts seines Wohnorts in den Bergen West Virginias, seines Akzents und seiner Vorliebe für Heavy Metal war das nicht sehr schwer.
Ich dankte ihm und tippte den Code für das Eingangstor ein, das aufschwang, während eine gut verborgene, aber eindrucksvolle
Nagelkette im Boden versank. Wir fuhren durch den Palisadenzaun und die gewundene Zufahrt hinauf, die etwa dreißig Meter lang war. Ahmad und Garcia sahen sich vorsichtig um, ebenso Maree und Ryan Kessler, der immer noch wachsam war, obwohl er vermutlich noch den einen oder anderen Schluck genommen hatte. Joanne sah aus dem Fenster, als würde sie monatealte Zeitschriften im Wartezimmer eines Arztes betrachten.
Ich parkte, und wir stiegen aus. Neben der Haustür – die wie Holz aussah, aber aus verstärktem Stahl war – öffnete ich eine Klappe und tippte in eine Tastatur unter einem kleinen LCD-Bildschirm. Das Programm bestätigte per Bewegungs-, Klang- und Wärmesensoren, dass das Haus vollkommen menschenleer war (es kann ein schlagendes menschliches Herz identifizieren, würde mich aber nicht wegen des Geräusches einer nach Nahrung suchenden Wasserratte beunruhigen, oder weil der Heizkessel anspringt). Ich schloss die Tür auf und ging hinein, dann deaktivierte ich vorübergehend die Alarmanlage. Sie würde sich wieder einschalten, wenn wir alle im Haus waren, und die Tür automatisch verriegeln; es gab allerdings einen Panikknopf, mit dem man sie von innen öffnen konnte, falls es brannte oder jemand auf anderem Weg eingedrungen war. Dasselbe galt für die meisten Fenster, die sich ansonsten nur zwanzig Zentimeter weit öffnen ließen.
Ich machte Licht und setzte die Heizung in Gang – die Temperatur war gefallen –, und dann fuhr ich unsere Batterie von Überwachungsmonitoren hoch, die ein Spiegelbild jener in West Virginia waren. Als Nächstes war der sichere Computerserver dran. Ich überprüfte, ob die abgeschirmten Festnetzleitungen funktionierten. Schließlich vergewisserte ich mich, dass die Generatoren betriebsbereit waren; sie würden automatisch anspringen, falls ein Eindringling das Hauptstromkabel durchtrennte.
Ich führte die Mandanten kurz durch das muffig riechende Erdgeschoss.
»Ach, wie nett!«, sagte Maree und ging zu einer Reihe alter Sepia-Fotografien an der Wand, ohne auf die Regale voller Bücher, Zeitschriften und, jawohl, Brettspiele (allerdings keine, die ich gespendet hatte) zu achten. Beim Blick auf ihre glückselige Miene fragte ich mich, wann ich je eine Mandantin gehabt hätte, die so schnell vergessen konnte, dass sie nur eine Stunde zuvor in eine Schießerei verwickelt gewesen war. Ich kam zu dem Schluss, dass ich noch nie
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