Schutzwall
hätte bezahlen müssen. Das war selten der Fall.«
»Pick und ich waren die ärmsten Kinder an der Horace-Mann-Grundschule«, sagte Spivey stolz, »und wir wären auch noch in der Unterstufe der High-School die ärmsten Kinder gewesen, doch ungefähr um diese Zeit wurde sie eine integrierte Schule, und einige farbige und mexikanische Kinder kamen dazu, die noch ärmer waren als Pick und ich. Doch wir waren immerhin noch die ärmsten weißen Kinder an der Coolidge Junior High, stimmt’s Rick?«
»Vollkommen.«
Bevor Spivey noch weitere Erinnerungen auskramen konnte, kam einer der Mexikaner herein, die draußen den Garten umgegraben hatten, bekleidet mit einer weißen Jacke und gutgebügelten Jeans. Sie bestellten sich alle Drinks, und der Gärtner/Hausdiener ging durch eine Schwingtür hinaus, die, wie Dill jetzt bemerkte, in eine Pantry führte. Er stellte auch fest, daß das Tischtuch aus irischem Leinen war; das Tafelsilber englisch; das Porzellan aus Frankreich – Limoges, dachte er –, und die beiden Weingläser neben seinem Teller waren aus schwerem Bleikristall, womöglich aus Böhmen. Da er Spivey kannte, war er fast sicher, daß der Lunch eine Tex-Mex-Angelegenheit werden würde.
»Dann seid ihr zwei also damals in den fünfziger Jahren, als ihr noch Kinder gewesen seid, hier draußen gewesen«, sagte Daphne Owens zu Spivey.
Er grinste Dill zu. »Du hast ihr davon erzählt?«
»Sie fragte mich, ob ich das Haus früher schon mal gesehen hätte.«
»Ich und Pick, wir waren zwei der hundert bedürftigsten Kinder der Stadt – jedenfalls haben wir beide uns so eingeführt. Wir waren damals … wie alt, Pick – zehn?«
»Zehn«, stimmte ihm Dill zu.
»Na ja, Schätzchen, wir hatten allerlei Geschichten über das Herrenhaus des alten Ace gehört. Mein Gott, das hatte jeder. Armaturen im Badezimmer aus reinem Gold, all solches Zeug eben, und das mußten wir unbedingt sehen. Also hatte Pick den Einfall, daß wir, wenn wir unsere ältesten Klamotten anzögen – und es gab beileibe keinen allzu großen Unterschied zwischen unseren ältesten und unseren besten Sachen – und dann hierherkämen und die Hausdame aufsuchten, die alte Dame McMullen – wie alt, schätzt du eigentlich, Pick, war sie damals?«
»Alt«, sagte Dill, »mindestens vierzig.«
»Für uns älter als der liebe Gott«, sagte Spivey. »Also, so machten wir es dann auch.«
»Jake besorgte das Reden«, sagte Dill, »ich sah einfach schmachtend und sehnsüchtig aus. Sehr arm, sehr sehnsüchtig.«
»Und als nächstes konntest du dann mich und Pick in einem gemieteten Stadtbus wiederfinden, zusammen mit etwa achtundfünfzig lieben, kleinen, farbigen Kindern und fünfunddreißig sogar noch braveren kleinen Mexikanern und fünf anderen armen Weißen, wie wir nach Cherry Hills und zum Herrenhaus des alten Ace Dawson hinausfuhren, um eine Weihnachtsparty zu feiern.«
»Wart ihr denn nicht völlig verwirrt«, fragte Miss Owens, »ich meine, fandet ihr es nicht irgendwie – nun ja, Himmel noch mal, entwürdigend?«
»Was ist denn so entwürdigend an schierer Neugier?« fragte Dill. »Ace Dawson war ein Mythos. Wir wollten einfach sehen, wie der Mythos gelebt hatte.«
»Und du kannst absolut beruhigt sein, Schätzchen: Es war nicht gelogen«, sagte Spivey. »Wir waren arm, obwohl es bei Pick hier eine Art schäbig-vornehmer Armut war und bei mir ganz einfache, schmutzige Armut.« Er wandte sich zu Dill. »Erinnerst du dich noch, was ich an jenem Abend auf der Heimfahrt im Bus zu dir gesagt habe?« Bevor Dill ihm antworten konnte, hatte Spivey sich wieder Daphne Owens zugewandt. »Was meinst du wohl, habe ich zu ihm gesagt?«
»Daß du es eines Tages besitzen würdest, natürlich, das Herrenhaus von Dawson.«
Spivey schüttelte den Kopf, als wäre er gleichzeitig befremdet und enttäuscht. »Daffy, du hast eine romantische Ader in dir, die ich nie vermutet hätte.« Er wandte sich wieder an Dill. »Erzähl ihr, was ich an diesem Abend auf der Busfahrt nach Hause zu dir gesagt habe.«
Dill lächelte: »Daß Reichsein viel, viel leichter aussähe, als arm zu sein, und daß du den Entschluß gefaßt hättest, lieber gleich den leichteren Weg zu gehen.«
Miss Owens starrte Spivey an, und ihre Miene drückte zu gleichen Teilen Gequältheit und Mißtrauen aus. »Du hast das wirklich als Zehnjähriger gesagt?« fragte sie, wobei jetzt in ihrem Tonfall Gequältheit eindeutig das Übergewicht bekam.
Spivey grinste. »Na ja, vielleicht nicht so
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