Schutzwall
dort ein paar Kleidungsstücke aufbewahrt, jemand hat dort hin und wieder eine Tasse Kaffee getrunken. Ab und an hat dort sogar jemand geschlafen, aber gewohnt hat da niemand, jedenfalls niemand mit Namen Felicity Dill. Was ich Sie also eigentlich fragen will, ist, wo Felicity tatsächlich gewohnt hat? Bei Ihnen? Hat sie dort den Herd mit Remouladensoße bekleckert und neun Bücher gleichzeitig gelesen, die sie meistens aufgeschlagen auf dem Fußboden liegenließ? Und hat sie dort zwei Packungen Luckys am Tag geraucht, sich mindestens zweimal am Tag auf die Waage gestellt und ihre Küche ausreichend mit Nahrungsmitteln für mindestens zwei Monate vollgestopft, auch wenn sie vieles davon wegwerfen mußte? Das war meine Schwester, Captain. So hat sie gelebt. Sie war nicht maßlos ordnungsliebend. Sie hat nicht Versandhausdrucke von Impressionisten an ihre Wände gehängt. Man mußte Felicity nur fünf Minuten in einem Raum allein lassen, jedem beliebigen Raum, und bald sah er aus, als hätte sie schon seit ewigen Zeiten darin gelebt. Sie nistet sich ein, Captain, und sie baute sich aus allen möglichen Sachen ein Nest – seltsamen Dingen, komischen Dingen, sogar albernen Dingen – wie jenem Feuerhydranten, den sie gekauft hatte, als sie fünfzehn war, den sie oben mit dem Schweißbrenner aufschnitt und daraus ein Vogelbad machte, das sie vorn im Garten aufbaute.« Dill zog tief die Luft ein, hielt sie eine ganze Weile an, stieß sie langsam aus und fragte in einem ruhigen, vernünftigen Ton: »Wo hat sie also gewohnt, Captain?«
Die Kellnerin Lucille tauchte mit den zwei Bieren auf und stellte sie vor ihnen ab. Sie setzte an, um etwas zu Colder zu sagen, änderte jedoch ihre Absicht, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, und machte sich schleunigst davon. Colder, der Dill noch immer anstarrte, schob seine linke Hand in seine Hosentasche, hob sein Bier mit der rechten und trank einige Schlucke.
Nachdem Colder sein Bier abgestellt hatte, sagte er: »Ecke Fillmore und Nineteenth. Sie wissen, wo das ist?«
Dills Erinnerung ging Abschnitt für Abschnitt den Stadtplan durch. Die Karte hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt. »Die Fillmore stößt auf den Park, den Washington Park, und geht dann auf der anderen Seite weiter. An der Ecke stehen ein paar alte Häuser, sehr große alte Häuser.«
»Südwestecke, 1738 Fillmore. Ein Architekt hat es gekauft und zu Apartments umgebaut. Hinten ist eine Garagenwohnung, an der Zufahrt. Das war Felicitys.« Er zog seine linke Hand aus der Tasche und legte einen einzelnen Schlüssel neben Dills Bierglas. »Hier ist der Schlüssel.«
Dill schaute erst den Schlüssel und dann Colder an.
Ihm war so, als hätte er für Sekundenbruchteile etwas in den Augen des anderen gesehen, vielleicht Schmerz, doch er verflüchtigte sich fast sofort wieder. »Warum zwei Wohnungen?« fragte Dill.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie haben doch von beiden gewußt?«
»Herrgott, ja, ich wußte es. Schauen Sie, mein Freund, vielleicht sollten Sie sich eines merken: Ich wollte sie heiraten. Nicht weil sie meiner Karriere förderlich gewesen wäre, nicht weil sie reich war, nicht weil sie – ach, zum Teufel, ich habe sie geliebt! Eben darum wollte ich sie heiraten!«
Der Schmerz, so bemerkte Dill, kehrte jetzt in Colders Augen zurück. Diesmal verlor er sich nicht gleich wieder.
»Was hat sie dazu gesagt – daß sie zwei Wohnungen gehabt hat.«
»Sie sagte, das andere, das einstöckige Haus, wäre eine Investition für Sie beide. Sie sagte, Sie hätten die Absicht geäußert, hierher zurückzukommen und wieder hier zu leben. Sie sagte auch, Sie hätten geholfen, es zu kaufen.«
»Das hat sie gesagt?«
Colder nickte, und der Schmerz in seinen Augen drohte sich über sein ganzes Gesicht auszubreiten.
»Sie hat gelogen«, sagte Dill.
»Ja«, sagte Colder, »das wissen wir beide jetzt, nicht wahr?«
14
Nachdem er Captain Colder verlassen hatte, ging Dill zurück in die Tiefgarage des Hotels, holte die Akte Jake Spivey aus dem Handschuhfach des Ford und nahm den Fahrstuhl von der Garage bis zum neunten Stockwerk. Er beabsichtigte, Timothy Doland in Washington anzurufen und ihm einige der wichtigeren Passagen aus Spiveys eidesstattlicher Erklärung vorzulesen.
Dill schloß die Tür zu Zimmer 981 auf, stieß sie auf und betrat den Raum. Er drehte sich um, um die Tür zu schließen, und der Arm legte sich um seinen Hals. Es war ein dicker Arm, sehr muskulös, sehr stark. Dill hatte gerade noch
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