Schutzwall
Diätküche. Wo sollen wir uns treffen?«
»Kann ich Sie nicht abholen?«
»Sie meinen, von zu Hause?«
»Gewiß doch.«
»Gott«, sagte sie, »das ist wirklich wie bei einer richtigen Verabredung, nicht wahr?«
Anna Maude Singe wohnte an der Ecke 22nd und Van Buren Street in einem siebengeschossigen Apartmenthaus, das im Frühjahr 1929 von demselben Syndikat von Ölleuten gebaut worden war, das später das Hochhaus des bankrotten Bodenspekulanten erworben hatte. Offensichtlich hatten die Ölleute das leicht georgianisch anmutende Gebäude errichten lassen, um die Elterngeneration der neuen Ölreichen unterzubringen, die die alten Leute nicht immer auf Schritt und Tritt im Nacken haben wollten. Es war ein gut durchdachtes, sorgfältig geplantes Bauwerk, und die neuen Ölreichen schlossen sogleich langfristige Mietverträge ab – nur um bald darauf festzustellen, daß ihre Eltern den Gedanken an ein Leben in einem Apartment abscheulich fanden (die meisten hielten es sogar für eine freche Zumutung) und sich weigerten, auch nur einen Schritt in das ihnen zugedachte Heim zu setzen.
Die Gesellschafter des Syndikats, die nun 1930 gewissermaßen auf einem weißen Elefanten sitzengeblieben waren, hatten die Achseln gezuckt und ihre eigenen Freundinnen und Mätressen in dem eingemietet, was dann später anzüglich das Old Folks Home genannt wurde, obwohl der richtige Name Van Buren Tower lautete.
Es war ein grundsolides, außergewöhnlich gut ausgeführtes Bauwerk, bei dessen Ausstattung verschwenderisch italienischer Marmor verwendet worden war, besonders in den ziemlich prunkvollen Baderäumen. Später dann, als die Ölleute und ihre Gespielinnen gealtert waren, sich getrennt hatten und gestorben waren, erzielten die Nobelapartments Höchstmieten, so zum Beispiel Ende 1941 eine Wohneinheit mit zwei Schlafzimmern, die nicht unter hundert Dollar monatlich zu haben war. Zum Entzücken der glücklichen Mieter jener Zeit wurden danach die Mieten bis Ende 1946 durch Preisbindung während des Krieges eingefroren.
Dill war nur einmal in diesem Gebäude gewesen, und das ging bis ins Jahr 1959 zurück, als der schlimme Jack Sackett ihn und Jake Spivey eingeladen hatte, Sacketts »Aunt Louise« zu besuchen, eine dreiunddreißigjährige Schönheit, die sich dann als die komfortabel ausgehaltene Freundin von Sacketts Vater entpuppt hatte, der damals Sprecher im Abgeordnetenhaus des Staates gewesen war. »Aunt Louise« hatte ihrem jungen Herrenbesuch Coca-Cola und Bourbon angeboten und sie später einen nach dem anderen in ihr Schlafzimmer geführt.
Dill und Spivey waren noch nicht ganz vierzehn gewesen. Sackett, die zukünftige Nummer eins im Poolbillard der Westküste, war fünfzehn gewesen. In Dills Erinnerung war dies immer ein denkwürdiger Sommernachmittag geblieben.
Als er in der marmornen Eingangshalle des Van Buren auf den einzigen Lift wartete, der ihn zum fünften Stockwerk hinauffahren sollte, bemerkte Dill, daß die Teppiche in der Lobby ein wenig verschlissen waren, die Wände von klebrigen Fingern beschmiert und die dicken Glastüren seit langem ungeputzt. Im Fahrstuhl, der nach Hundepisse stank, versuchte er sich die Nummer von »Aunt Louises« Apartment zu vergegenwärtigen, was ihm aber mißlang. Dill machte sich keinerlei Hoffnungen, daß Anna Maud Singes Nummer dieselbe sein würde.
Sie trug einen gestreiften, in der Taille geknoteten Baumwollkaftan, als sie ihm die Tür öffnete, nachdem er auf den elfenbeinfarbenen Klingelknopf gedrückt hatte.
Sie lächelte und trat zurück. Als er hineinging, sagte sie: »Willkommen in der verblichenen Pracht.«
Dill schaute sich um. »Sie haben recht, genauso ist es.«
»Sie kennen seine düstere Geschichte? Die des Gebäudes meine ich.«
Er nickte.
»Nun ja, dieses Apartment hier wurde von 1930 bis zum Frühjahr vergangenen Jahres von einer gewissen Eleanor Ann Washburn, später nur unter dem Namen Miss Ellie bekannt, bewohnt, und als sie starb, hinterließ sie dies alles mir – Möbel Kleidung, Bücher, Gemälde, alles –, einschließlich ihrer Erinnerungen. Wissen Sie, es wurde Gemeinschaftsbesitz.«
Das, meinte Dill, hätte er nicht gewußt.
»Damals, 1972«, sagte sie.
»Warum hat sie’s Ihnen hinterlassen?«
»Ich half ihr, ihre Gewinnanteile an einigen verpachteten Ölquellen einzuziehen, die der alte Ace Dawson ihr Anfang der dreißiger Jahre vermacht hatte. Er gab ihr, was sie immer ›einen Abfallkübel voller Pachtverträge‹ genannt hat, aus
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