Schwaben-Filz
Höhen und Tiefen, so kam es ihm vor, je mehr er sich mit dem Mann beschäftigte. In Stuttgart als Sohn eines Arbeiters geboren; eine jüngere Schwester; die Eltern früh, während seiner Grundschulzeit geschieden; zwei Kinder in ärmlichen Verhältnissen ohne Vater aufgewachsen. Mit 14 am Gymnasium gescheitert, drei Jahre später der Hauptschulabschluss. Die Lehre als Mechaniker abgebrochen, aber die Mittlere Reife nachgeholt und dann erfolgreich die Ausbildung zum Maurermeister absolviert. Mit 23 eine eigene Baufirma gegründet und diese innerhalb kürzester Zeit zu einem stattlichen Unternehmen mit 35 Beschäftigten hochgetrimmt. In den folgenden Jahren mehrere erfolgreich verwirklichte Bauprojekte. Dann, im Alter von 34 Jahren, die versuchte Gewalttat an der 17 Jahre jüngeren Julia Riestler in einer am Rand der Alb gelegenen Jagdhütte Gerald Robels, danach eineinhalb Jahre Untersuchungshaft und weitere zwei Jahre Gefängnisaufenthalt.
Und jetzt, vor genau fünf Wochen wieder freigekommen – und das erste zentrale Ziel seines restlichen Lebens realisiert, überlegte Braig. Er suchte nach dem Namen und der Telefonnummer des Kollegen, der die Untersuchungen damals geleitet hatte, nahm sein Telefon her, gab die Ziffern ein. Ein Reinhard Brahn von der Polizeidirektion Göppingen war als verantwortlicher Kriminalhauptkommissar aufgeführt. Braig erinnerte sich, irgendwann schon einmal mit dem Mann zusammengearbeitet zu haben.
»Brahn.« Ein sonorer Bass war am Apparat.
Braig stellte sich vor, sah seine Erinnerung bestätigt.
»Waren wir nicht schon einmal gemeinsam auf der Pirsch?«, überlegte Brahn. »Der Name und die Stimme kommen mir bekannt vor.«
Sie suchten nach dem konkreten Anlass ihrer Zusammenarbeit, wurden auf die Schnelle nicht fündig.
»Und was verschafft mir heute die Ehre?«
»Markus Ruppich«, erklärte Braig, »versuchte Vergewaltigung in einer Jagdhütte.«
Brahn schien zu überlegen. »Die junge Frau, die dermaßen mit Alkohol abgefüllt war, dass sie sich an nichts mehr erinnerte. Wie hieß sie noch gleich?«
Braig stöberte in seinen Unterlagen. »Julia Riestler.«
»Julia Riestler, genau. Die brachte wirklich überhaupt nichts mehr auf die Reihe.«
»Hatte sie selbst so viel getrunken oder wurde ihr das Zeug irgendwie …«
»Das konnten wir, wenn ich mich richtig erinnere, nie genau klären. Sie gab zwar an, ein oder zwei Gläser Wein oder Likör, tut mir leid, das kriege ich jetzt so schnell nicht mehr auf die Reihe … Also, getrunken hatte sie wohl schon, aber nicht in diesen Mengen. Na ja, aber das spielte letztendlich keine große Rolle, denn dieser Ruppich war ja sehr schnell geständig.«
»Ihr hattet nicht viel Arbeit mit ihm?«
Die Antwort des Kollegen kam ohne langes Überlegen. »Nein, das weiß ich noch genau. Der gab schnell zu, über sie hergefallen zu sein …« Brahn wurde mitten im Satz unterbrochen, weil eine laute Stimme hektisch auf ihn einredete. »Ja, ich komme«, sagte er dann. »Einen Augenblick.«
»Ihr habt einen Einsatz?«, fragte Braig.
»Ein Unfall«, bestätigte sein Gesprächspartner. »Aber das will ich noch sagen: Dieser Ruppich tat mir damals fast leid, daran erinnere ich mich noch genau. Einerseits war ich froh, dass er so schnell geständig war und wir unsere Ermittlungen zum Abschluss bringen konnten, andererseits …« Er überlegte einen Moment, schien nebenbei etwas zu erledigen, sprach dann weiter. »Der Typ war ja selbst so besoffen, dass es einen halben Tag dauerte, bis er einigermaßen normal reden konnte. Der saß erst mal ewig in der Ausnüchterungszelle, bevor er vernehmungsfähig war.«
»Und trotzdem konnte er später detaillierte Angaben zu dem Geschehen machen?«
»Na ja, so war es eben nicht. Erst nachdem ich ihn mit den Aussagen der Zeugen konfrontiert hatte und wir eine Faserspur an der Kleidung des Mädchens seiner Hose zuordnen konnten, schien er selbst von seiner Schuld überzeugt. Das war das merkwürdigste Geständnis, das ich in den letzten Jahren zu hören bekam. Aber, sagen Sie, warum interessieren Sie sich für den Mann?«
»Er steht im Verdacht, einen der Männer, die ihn damals überwältigt hatten, ermordet zu haben«, antwortete Braig.
»Ach – und Sie glauben, das hat mit dem Vorfall in der Jagdhütte damals zu tun?«
»So weit bin ich noch nicht. Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Falls noch Fragen auftauchen sollten, Sie haben ja meine
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