Schwaben-Filz
Ausführungen, war doch bisher nirgendwo von Drohungen die Rede, die Ruppich gegen Grobe vorgebracht haben sollte. Er war in sein Büro zurückgekehrt, hatte sich in der Kantine eine Portion Milchreis geholt und Kaffee getrunken, danach die Gerichtsprotokolle zur Hand genommen.
Wieder und wieder blätterte er die Papiere durch, konnte keinen Anhaltspunkt erkennen, etwas übersehen zu haben. Erst in den zusätzlich beigefügten Unterlagen tauchten Hinweise auf die seltsame Verhaltensänderung des Mannes auf. Ruppich war nach mehreren Monaten seines Gefängnisaufenthaltes dadurch aufgefallen, dass er heftige Drohungen gegen verschiedene Personen ausgesprochen hatte. Nicht nur andere Häftlinge waren bereit, das zu bezeugen, sondern auch verschiedene Beamte des Wachpersonals. Seine Äußerungen hatten im Verlauf der folgenden Monate solche aggressiven Züge angenommen, dass sich der Direktor des Gefängnisses persönlich darum gekümmert und schließlich – in Zusammenarbeit mit dem Gericht – jede Chance auf eine frühere Haftentlassung Ruppichs vereitelt hatte. Somit war der Mann erst vor fünf Wochen, nach insgesamt dreieinhalb Jahren Gefängnisaufenthalt entlassen worden.
Die Adressaten seiner Drohungen zu ermitteln, war kein Problem. Söderhofers Papiere verzeichneten die Namen im unmittelbaren Anschluss. Karl Neuber, Rolf Grobe, Gerald Robel. Es handelte sich exakt um die drei Männer, die vor Gericht als Zeugen aufgetreten waren.
Der konkrete Inhalt der Drohungen war den Ausführungen dagegen nicht zu entnehmen. Braig las nur von Vorhaltungen Ruppichs, die drei Benannten hätten ihn übel betrogen und ausgenutzt, die Schuld liege nicht bei ihm, sondern bei diesen Männern.
Die Schuld wofür, überlegte der Kommissar. Er wurde aus den ihm vorliegenden Zeilen nicht schlau, las von der Vermutung des Gefängnisdirektors, Ruppichs Verbitterung resultiere aus der Tatsache, dass dessen Freundin ihn während seines Haftaufenthaltes verlassen habe – etwa zu dem Zeitpunkt, an dem der Mann seine ersten Drohungen und Beschuldigungen formuliert hatte.
Das war durchaus verständlich, überlegte Braig. In den ersten Monaten nach seiner Tat hatte sich Ruppich den Ausführungen zufolge reuevoll und geständig gezeigt, wahrscheinlich auf Anraten seines Rechtsbeistands, um das Gericht milde zu stimmen – durchaus mit Erfolg, wie das Urteil bestätigte. Je mehr Zeit er jedoch im Gefängnis verbracht hatte, desto stärker war die Entfremdung von seiner gewohnten Umgebung und von den ihm vertrauten Menschen spürbar geworden. Unter dem Zwang der Trennung hatte sich auch das Verhältnis zwischen ihm und seiner Freundin mehr und mehr gelockert, einsame Nächte hatten ewigen Treueschwüren ihr angeblich unverrückbares Fundament entzogen. Irgendwann war wohl ein anderer Mann in ihr Leben getreten, ohne dass Ruppich irgendetwas dagegen hatte unternehmen können. So war die Verbitterung über sein Schicksal entstanden, die Wut und die Aggressionen gegen diejenigen, die ihn ans Messer geliefert, seine Verfehlung öffentlich gemacht hatten. Nicht er selbst war mehr der Schuldige, wie er bisher selbst zugegeben hatte, sondern diejenigen, die ihn bei seiner üblen Tat ertappt hatten.
Eine nachvollziehbare Entwicklung, dachte Braig. Nachvollziehbar bis zum Mord an Rolf Grobe?
Er musste nicht lange überlegen, war zu lange als Kriminalkommissar tätig, um auch nur einen Zweifel an dieser Konsequenz zu hegen. Zu oft hatte er bei den verschiedensten Ermittlungen erleben müssen, dass Menschen in bestimmten Situationen fähig waren, sich in irrationalen Hass zu steigern, in dessen Rausch sie andere zum Sündenbock ihrer Verbrechen stempelten und ihre eigene Verantwortung vollkommen vergaßen.
Den Verlust seiner Freundin nicht seiner eigenen Verfehlung, der versuchten Vergewaltigung der jungen Frau in der Jagdhütte zuzuschreiben, ihn vielmehr den Männern in die Schuhe zu schieben, deren Aussage ihn – seiner Meinung nach – dreieinhalb Jahre lang hinter Gitter gebracht hatte, ließ Ruppichs Leben um vieles erträglicher erscheinen: Es befreite ihn von seiner Schuld, schenkte ihm zugleich eine neue Lebensaufgabe, deren Verwirklichung er sich jetzt hingeben konnte: die eigentlich Schuldigen zu bestrafen. Hatte er mit Grobes Ermordung den ersten Schritt bereits erfolgreich vollzogen?
Braig blätterte den Rest der Unterlagen durch, die Ruppichs Biographie enthielten. Das Leben eines schnell zupackenden Selfmade-Mannes mit all seinen
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