Schwaben-Filz
waren nicht zu übersehen. Ruppich musste dingfest gemacht werden, so schnell als möglich. Die Verhaftung, überlegte er, konnte er es allein, mit ein, zwei Kollegen riskieren? Oder war das angesichts der Verbitterung des Mannes nicht zu gefährlich? Ein Sondereinsatzkommando …?
Er spürte seine Anspannung, hörte Heckles Bemerkung.
»Dabei hat der Kerl so viel Talent.«
Talent? Er wusste nicht, wovon der Sozialarbeiter sprach. »Was meinen Sie?«
»Na, seine künstlerische Ader. Der Kerl kann zeichnen, Sie fassen es nicht. Ich bin auf der Suche nach einem Job für ihn, irgendwo bei einem Grafiker. Bis jetzt leider vergeblich. Sie sollten seine Tier-Karikaturen sehen, seine urigen Schweine-Darstellungen, mit drei, vier Strichen …«
10. Kapitel
Gerd Weissmann ausfindig zu machen, war nicht schwer. Der mit einem gut geschnittenen, dunkelblauen Anzug bekleidete Mann saß an einem Tisch mitten im Café in der Nähe von Lindemanns Buchhandlung, nippte an einem Weißwein und blätterte in einem Buch. Neben seinem Glas thronte ein Papier mit der mit einem dicken Filzstift aufgetragenen, weithin lesbaren Aufschrift
Neundorf
.
Die Kommissarin schob sich an den fast vollständig besetzten Stühlen vorbei, musterte den Mann, der hier offensichtlich auf sie wartete. Ein großer, blonder, athletisch wirkender Typ um die Vierzig. Ihn als blendend aussehend zu beschreiben war keine Übertreibung; das schmale, von knochigen Wangen und einem männlich-markanten Kinn geprägte Gesicht ging vielen Frauen wohl nicht so schnell aus dem Sinn, überlegte sie.
Sie blieb unmittelbar vor ihm stehen, bemerkte, wie er von dem Buch aufsah.
Mit Kanonen auf Spatzen
. Sie wusste sofort, wovon es handelte, hatte es selbst gelesen. 30. September 2010, der schwarze Donnerstag. Polizeigewalt im Stuttgarter Schlossgarten.
»Interessante Lektüre«, kam sie direkt darauf zu sprechen. »Aber um es gleich zu sagen: Ich war nicht dabei.« Sie beglückwünschte sich insgeheim zu ihrem forschen Einstieg, als sie die Reaktion des Mannes bemerkte.
Er schoss von seinem Stuhl in die Höhe, versuchte, das Buch hinter seinem Körper zu verstecken. Verlegen wie ein bei einem bösen Lausbubenstreich ertappter, junger Bengel stand er vor ihr, sicher an die 1,90 Meter groß. Dass er nicht auch noch rot anlief, war alles. Dafür war er der Pubertät wohl doch schon zu lange entfleucht.
»Neundorf«, stellte sie sich vor, »wir haben miteinander telefoniert.«
Er benötigte zwei weitere Sekunden, vollends zu sich zu finden, reichte ihr die Hand. »Gerd Weissmann. Das haben wir, ja.« Er nahm den einzig noch freien Stuhl, platzierte ihn so nahe bei ihr, dass sie sich unmittelbar darauf niederlassen konnte.
Neundorf bedankte sich, wartete, bis er selbst wieder Platz genommen hatte, sah, dass er das Buch mit der Rückseite nach oben an den Rand des Tisches schob. Offensichtlich war es ihm peinlich, dass sie mitbekommen hatte, womit er sich gerade beschäftigte. Sie beschloss, seine Verlegenheit auszunützen und sofort zur Sache zu kommen. »Darf ich fragen, weshalb Sie heute Morgen so früh aus Herrn Hellners Haus verschwunden sind?«
Sie sah, dass er mit dem Kopf nickte, musterte ihn eingehend. Veilchenblaue Augen, wie ein Darsteller aus einer Seifenoper. Nicht irgendeiner, überlegte sie, sondern genau derjenige, der alle seine zahlreichen Nebenbuhler mit seinem Charme und seinem Aussehen mühelos aussticht und am Schluss die Prinzessin zum Traualtar führt.
»Ich hatte einen wichtigen Termin«, erklärte er, noch etwas unsicher, aber ohne ihrem Blick auszuweichen. »Den wollte und durfte ich durch nichts in Gefahr bringen.«
»Auch nicht durch eine Leiche.«
»Ich bin gerade dabei, mich beruflich neu zu orientieren und es scheint zu klappen. Außerdem blieb Götz im Haus. Ich dachte, das genügt vorerst. Sollte mich jemand sprechen wollen, er weiß, wo ich bin.«
»Herr Hellner hat uns aber Ihre Anwesenheit verschwiegen.«
Ihr Gegenüber rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Ach, das dürfen Sie nicht überbewerten. Götz ist in einer etwas schwierigen Situation. Beruflich, meine ich. Das ist alles etwas zu viel im Moment. Und dann auch noch ein toter Mensch vor der Haustür!«
»Wo waren Sie heute Nacht?«
»Bei Götz, also Herrn Hellner. Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
»Sie waren die ganze Nacht mit ihm zusammen?« Irgendwie konnte sie sich das nicht vorstellen. Dieser blonde, Frauen zu den verwegensten Träumen hinreißende
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