Schwaben-Filz
Verzeihung, aber ich hatte Panik wegen meines Termins. Die Sache bedeutet mir sehr viel, ich wollte meine aktuellen Chancen testen. Und viel Zeit blieb mir wirklich nicht. So nahm ich den Zug eine Stunde früher als geplant.«
Neundorf versuchte, ihre Aggressionen zu zügeln, verzichtete auf weitere Vorwürfe. »Sie kennen die Frau?«, fragte sie stattdessen.
»Die Tote?«
Sie nickte wortlos.
»Tut mir leid, nein. Wobei ich gestehen muss, dass ich sie mir nur kurz angesehen habe. Selbst das ist eigentlich zu viel gesagt. Ein toter Mensch … nein.« Weissmann schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht besonders mutig, was solche Dinge angeht. Eher ein Feigling, wenn ich ehrlich bin.«
»Aber jetzt wären Sie bereit, kurz einen Blick auf sie zu werfen?« Sie zog ihr Handy vor, rief eines der Fotos der Toten auf, die Dr. Dolde aufgenommen hatte.
Weissmann ließ ein etwas theatralisches Seufzen hören. »Wenn es unbedingt sein muss und Sie wollen, dass mir mein Wein überhaupt nicht mehr schmeckt.«
»Es muss sein.« Sie schob ihm das Handy zu, verfolgte seine Reaktion.
Er schien sich voll auf das Bild zu konzentrieren, wandte kurz den Kopf zur Seite, weil sich das Außenlicht auf dem Monitor spiegelte, schüttelte dann den Kopf. »Nein, wirklich. Die Frau kenne ich nicht.«
»Sie sind sich absolut sicher?«
Er musterte das Foto erneut, blieb bei seiner Aussage. »Tut mir leid. Die Frau ist mir nicht bekannt.«
Neundorf fuhr sich durch die Haare, nahm ihr Mobiltelefon wieder an sich.
»Jetzt sollten Sie aber wirklich von Ihrem Kaffee versuchen, sonst ist er kalt«, warf er ein. »Das wäre doch wirklich schade.«
Du unverschämter Charming-Boy, dachte sie, folgte aber seinem Rat. Schon beim ersten Schluck spürte sie, dass er recht hatte. Die Temperatur des Macchiato war beinahe an die gerade noch akzeptable Grenze herabgesunken. Sie trank von der Tasse, erinnerte sich daran, dass sie einen Aspekt ihrer Untersuchung noch nicht angesprochen hatte. »Sie haben die seltsame Kleidung der Frau bemerkt?«, fragte sie.
Weissmann wusste sofort, worauf sie hinaus wollte. »Das T-Shirt mit dem geschmacklosen Aufdruck?« Er schüttelte den Kopf, brachte seine Abscheu deutlich zum Ausdruck. »Es hing um ihren Hals. Das war nicht zu übersehen. Als hätte man es ihr nach ihrem Tod noch gewaltsam übergezogen.«
Neundorf sah überrascht auf. Derselbe Gedanke war ihr ebenfalls schon gekommen. »Woher wollen Sie das wissen?« Sie musterte ihn mit kritischem Blick.
»Woher ich das wissen will? Ich weiß überhaupt nichts. Das war nur ein Gedanke, der mir im Nachhinein kam. Als ich heute Morgen im Zug saß und mir der Anblick der Frau, so kurz er auch war, nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte. Ich versuchte, mich auf das mir bevorstehende Gespräch zu konzentrieren und hatte nur das Gesicht und den Körper der Frau im Kopf. Eigentlich kann ich es bleiben lassen, dachte ich, ich werde kein vernünftiges Wort zustande bringen nach diesem Schock. So war das, ja.«
»Und? Waren Sie imstande, ein vernünftiges Wort zu formulieren?«
Weissmann nippte an seinem Wein, stellte das Glas zurück auf den Tisch. »Doch, ja. Es lief besser, als ich befürchtete. Wenn man nach einer Weile wieder in sein gewohntes Metier zurückfindet … So lief das wohl. Aber die tote Frau, Sie können mir glauben, die steckt noch lange hier drin.« Er klopfte mit seiner zur Faust geballten Rechten auf seinen Kopf. »Und was dieses seltsame T-Shirt betrifft, darauf wollen Sie doch wohl hinaus, oder?«
Neundorf nickte schweigend.
»Würden Sie das freiwillig anziehen?« Seine zweifelnde Miene verriet deutlich die Antwort, die er erwartete.
Sie schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie«, sagte er. »Die wollten die Frau noch zusätzlich demütigen. Zusätzlich zu dem Mord.«
Oder bewusst den Verdacht in eine bestimmte Richtung lenken, dachte Neundorf. Beide Varianten waren ihr bereits durch den Kopf gegangen. Sie musterte den Mann, musste insgeheim zugeben, dass sie ihn nicht durchschaute. Nach außen hin die allzu wohlgefällige Schale und dann solche Gedanken …War sie von ihren Vorurteilen blockiert? Musste eine so gut aussehende Person automatisch verdächtig sein?
»Pfui Teufel«, erklärte Weissmann. »Wenn das Absicht war … Hoffentlich finden Sie den Kerl bald. Ehrlich.«
Oder war er einfach nur ein sehr guter Schauspieler? Eine laute Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Mensch Gerd, was machst du hier? Ich dachte, du bist in Berlin?« Eine
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