Schwaben-Hass
sich durch den dichten Strom dem Bahnhof zustrebender Menschen, nickte bedächtig. »Es muss«, erklärte er, »das ist meine einzige Chance.«
Braig drehte sich zur Seite, betrachtete die Miene des nach mehrwöchigem Klinikaufenthalt erst vor wenigen Tagen wieder ins Amt zurückgekehrten Kollegen. Die Ärzte der Tübinger Universitätsklinik hatten zufällig bei einem durch einen beruflich bedingten Vorfall erforderlichen Krankenhausaufenthalt bei Söhnle Krebs festgestellt. Der junge Kriminalmeister war bisher nicht bereit gewesen, sich zu seinem Gesundheitszustand zu äußern, hatte jede Auskunft hartnäckig verweigert.
Die Aussage eines der behandelnden Ärzte, die Krebserkrankung des jungen Beamten stehe höchstwahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dessen über Jahre hinweg dauernder Dienstverpflichtung zur Begleitung unzähliger Castor-Transporte zur radioaktiven Entsorgung des Atomkraftwerks Neckarwestheim, war von Seiten des zuständigen Ministeriums zuerst als hanebüchener Quatsch verurteilt, später dann, als diese Krankheitsbegründung nicht mehr zu widerlegen schien, mit der Androhung strengster disziplinarischer Konsequenzen für alle Übermittler dieser Botschaft geahndet worden. Gotthold Gübler, Braigs und Söhnles unmittelbarer Vorgesetzter im LKA, hatte bereits höchstpersönlich eine erste dienstrechtliche Verwarnung der Kommissarin Neundorf durchgesetzt, um deren unverblümte, mehreren Medienvertretern gegenüber offen geäußerte Beschuldigungen, die Polizeibeamten im Ländle würden ständig als untertänige Idioten von kriminellen Politikern missbraucht, einen eindeutigen Riegel vorzuschieben. Je willfähriger sich Gübler jedoch den Vertretern des Ministeriums unterordnete, desto offener wurde die Aussage des Arztes verbreitet.
Braig sah die bleichen Gesichtszüge, bemerkte die ungewohnt mühsame, leicht nach vorne gebeugte Körperhaltung des Kollegen. »Du bist nicht zu früh wieder im Amt?«
Söhnle schüttelte energisch den Kopf. »Ich spüre den Fortschritt jeden Tag. In ein paar Wochen bin ich wieder vollkommen fit.«
Braig tat sich schwer, seinem Begleiter Glauben zu schenken, hielt seine Skepsis jedoch zurück. Er gönnte dem sympathischen, beruflich absolut zuverlässigen Kollegen jede denkbare Verbesserung seines Gesundheitszustandes, wusste er doch, was Söhnle in den letzten Jahren privat wie beruflich mitgemacht hatte. Die kinderlose Ehe des Kriminalmeisters war in die Brüche gegangen, nur wenige Monate bevor ein bewaffneter Amokläufer Söhnle bei einer nächtlichen Untersuchung im Ludwigsburger Favoritepark als Geisel gekidnappt und mehrere Stunden in seiner Gewalt gehalten hatte. Erst am nächsten Mittag war es ihnen gelungen, den Kollegen am Fuße der Schwäbischen Alb aus dem Kofferraum eines Autos zu befreien. Der durch Mobbing von Seiten einiger Kollegen irregeleitete Geiselnehmer hatte sich kurz darauf – ob aus Absicht oder Versehen im Affekt- den Steilabfall des Uracher Wasserfalls hinuntergestürzt.
Braig und Söhnle waren bei der angegebenen Adresse angelangt, überflogen die Namensschilder auf der Suche nach Frau Breidle. Dem Kriminalmeister fiel die Lösung erst nach verzweifelter Überprüfung der Adressenliste wieder ein. »Frau Breidle wohnt zur Zeit bei ihrer Schwester«, erklärte er, »Möck heißt die Frau.«
Die Wohnung lag im ersten Obergeschoss, war gemütlich eingerichtet. Ein dicker, breiter Teppich schon in der Diele, mehrere kleine, aus hellem Holz gefertigte Wandlampen, jede mit einem anderen bunten Schirm. Im Wohnzimmer eine kleine, mit Geschirr und Gläsern bestückte Vitrine, drei schmale Sofas mitten im Raum um einen kreisrunden Tisch gruppiert.
Braig hatte der Witwe kondoliert, seinen Kollegen und sich vorgestellt. Ilka Breidle wirkte von Schmerz und Trauer gezeichnet. Sie hatte die Tür wehmütig lächelnd geöffnet, die beiden Beamten ins Wohnzimmer begleitet.
»Was darf ich Ihnen anbieten?«
Braig schloss sich seinem Kollegen an, bat um ein Glas Wasser. Ilka Breidle verließ den Raum, kehrte mit einer Hasche und drei Gläsern zurück. Die Frau war Mitte Vierzig, hatte frisch vom Friseur gewellte, dunkelblonde Haare, war dezent geschminkt, sie trug eine schwarze Bluse und einen langen dunklen Rock.
»Sie müssen entschuldigen«, erklärte sie, während sie einschenkte, »ich war heute Morgen nicht fähig, mit Ihnen zu sprechen. Es kam zu über …« Sie verstummte, sah zur Seite.
»Das geht in Ordnung«, antwortete
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