Schwaben-Hass
Raumes lange vor Beginn der Veranstaltung schon belegt – oft bis auf den letzten Platz, was nicht allein auf die große Anzahl der Studierenden an der Tübinger Eberhard-Karls-Universität, sondern vor allem auf ihre Beliebtheit bei jungen wie auch fortgeschrittenen Semestern zurückzuführen war. Im Gegensatz zu einigen Fachkollegen galt sie zwar nicht als intellektuell abgehobene, wissenschaftliche Koryphäe, genoss dafür aber den Ruf einer begabten Pädagogin, die ihren Stoff interessant und spannend zu vermitteln wusste. Dass sie mit einzelnen männlichen Studenten nicht nur als wissbegierigen Schülern, sondern bei entsprechender gegenseitiger Sympathie ab und an auch etwas intimer verkehrte, wusste nur der jeweils auserwählte Kandidat – trotz jahrelanger Praxis hatte sie es bisher geschafft, sich in weiten Kreisen den Ruf einer an Männern uninteressierten Lesbe zu bewahren, was auf einer längst beendeten Liaison mit einer alten Studienkollegin basierte.
Michaela König genoss ihren Beruf wie andere ihre Freizeitvergnügungen, erlaubte das reichhaltige Erbe ihrer vor 2 ½ Jahren bei einem Autounfall gestorbenen Eltern es ihr doch, sich mit einem halben Deputat zufrieden zu geben, auch wenn der Zeitvertrag ihre Tätigkeit auf acht Jahre befristete und aufgrund der politisch bedingten Vernachlässigung geisteswissenschaftlicher Fakultäten eine Verlängerung kaum in Aussicht stand.
Tübingen mit seinen stimmungsvollen Altstadtgassen, den vielen jungen Leuten, seinem ausgeprägt liberalen Klima und dem einer bedeutenden Großstadt vergleichbaren kulturellen Angebot war der in Heilbronn geborenen jungen Frau in den vergangenen Jahren zur heißgeliebten Wahlheimat geworden, die sie mit keiner anderen Stadt tauschen wollte. Der Beruf, die gemütliche, am Rand über der Innenstadt gelegene Wohnung, das menschliche Umfeld und das Freizeitpotential – alles stimmte. Michaela König hatte den Schmerz über den plötzlichen, unerwarteten Verlust ihrer Eltern weitgehend überwunden, genoss das Leben in der tolerant gemütlichen Kleinstadt am Neckar.
Viele Stunden über das vom Dienst geforderte Maß hinaus verbrachte sie in der Uni, teils in freiwilligen Sitzungen mit kleinen Gruppen von Studenten, teils in angeregten Fachgesprächen. Sobald es die Zeit erlaubte, gab sie sich ihrem größten Hobby hin: Sie versenkte sich in Bücher aller Stilrichtungen, las intellektuell anspruchsvolle Literatur ebenso wie spannendunterhaltsame Krimis. Lesen bedeutete ihr das Schwelgen in heißersehnten Träumen. Weil sie meistens allein lebte, konnte sie sich stunden- und tagelangen Leseorgien hingeben, ohne auf familiäre Zwänge achten zu müssen. Näherte sie sich dem Ende eines besonders ansprechenden Buches, fühlte sie sich mit Gewalt in die raue Wirklichkeit zurückgerissen.
Einer der wenigen unverrückbaren Fixpunkte in ihrem Leben waren, neben ihrer beruflichen Tätigkeit, die Treffen mit ihrer Freundin, Verena Litsche, die selten in einer ihrer Wohnungen, meistens im Ammerschlag, einem urigen, von dunklem Holzinterieur geprägten Lokal am Rand der Innenstadt stattfanden. Sie hatten sich vor Jahren in einem Volkshochschulkurs kennen gelernt und schnell gemeinsame Interessen festgestellt. Seither trafen sie sich Mittwoch abends, sofern kein anderer Termin dazwischenkam, wobei es Michaela König geduldig hinnahm, dass ihre Freundin fast regelmäßig zu spät erschien. Sie trank ein oder zwei Glas Wein, tauschte sich mit Studentinnen oder deren Kommilitonen aus und genoss die lebhafte Atmosphäre des Lokals. Jede Verzögerung des Eintreffens ihrer Freundin signalisierte ihr, dass Litsche wieder an einem ihrer interessanten Projekte arbeitete, das, wie diese hoffte, endgültig zu ihrem journalistischen Durchbruch beitragen würde. Was sich die ehrgeizige Frau allerdings heute leistete, fiel auch in ihrer langen Beziehung aus dem Rahmen.
»Ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen soll«, stammelte Verena Litsche, als sie sich kurz vor Elf durch die dichtgedrängte Menschenmenge im Lokal zu Michaela König durchgekämpft hatte, »ich muss mich tausendmal entschuldigen.«
Sie war noch dünner als sonst, ihre Backen eingefallen, die Haut bleich, die Augen vor Nervosität unruhig flackernd. Die Haare hingen strähnig in die Stirn, ihr helles Blond war nur noch zu ahnen. Das weite Sweatshirt fiel schlabbrig, in breiten Falten um ihre Taille. Die Silhouette ihres Körpers glich einem ausgehungerten jungen
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