Schwaben-Hass
ohne die Bilder an sich zu reißen, bringt doch nichts. Jetzt liegen die Fotos bei der Polizei und die Öffentlichkeit wird erst recht neugierig. Nein, der Anschlag galt Nuhr und mir. Meinem Projekt. Letzte Chance, es zu verhindern.«
»Und jetzt?«
»Morgen früh werde ich mich mit der Redaktion der tageszeitung in Verbindung setzen. Ich war so schockiert über den Mord, dass ich noch kein vernünftiges Gespräch zustande brachte. Mein Projekt ist der Wahnsinn, der reine Wahnsinn. Ich hoffe, sie bringen es trotzdem. Jetzt erst recht. Ich bin noch nicht ganz fertig – vier, fünf Tage Arbeit vielleicht noch.
Außerdem muss ich ihnen noch das ganze Material bringen, es liegt bei mir.«
»Bei dir? Ist das nicht gefährlich? Ich meine, wenn es wirklich …«
»Ich habe zwei Kopien. Auf Diskette. Eine habe ich weitergegeben, die andere liegt seit heute Morgen in einem Safe. Du erinnerst noch das Schatzsucherspiel, von dem ich dir erzählte? Absolut sicher verwahrt. Für den Fall …« Litsche blickte nervös um sich, betrachtete den Bärtigen, der hinter ihr saß, den Stuhl weit von seinem Tisch weggeschoben. »Ich bin nicht verrückt, Micha, wirklich. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Du solltest zur Polizei …«
»Let it be. Ich weiß nicht, ob das die Sache nicht noch gefährlicher macht.«
Michaela König starrte sie fragend an. »Wieso?«
»Mein Projekt entlarvt einige Konzerne. Mächtige. Sehr mächtige. Sie drohen mir seit Wochen. Auch mit der Polizei. Glaubst du, unser Staat hat Interesse, jemandem zu helfen, der Machenschaften der größten Firmen zur Sprache bringen will? Die schmieren Parteien mitsamt einflussreicher Politiker. Ich habe Angst. Seit heute Mittag habe ich wirklich Angst. Aber ich muss es durchstehen. Ich benötige noch vier, fünf Tage. Dann ist alles komplett.«
Die Gruppe am Nachbartisch lachte schallend. Sie klopften mit ihren Gläsern auf den Tisch, schrien sich gegenseitig deftige Sprüche zu.
Litsche duckte sich erschrocken. Ihre Hände zitterten. Sie hielt das leere Glas, schwenkte die letzten Tropfen hin und her. Die Haut in ihrem Gesicht war bleich, die Knochen ragten spitz aus ihren Wangen.
»Du kommst zu mir«, erklärte Michaela König unvermittelt, »bis du fertig bist mit deinem Projekt und die tageszeitung alles veröffentlicht hat.«
»Zu dir?« Litsche starrte ihre Freundin überrascht an. »Aber …«
»Jetzt gleich. Heute Nacht noch.«
Sie schwiegen, musterten sich gegenseitig. Die Gruppe nebenan lärmte weiter.
»Du glaubst mir also.«
Michaela König nickte. »Dein Aussehen spricht Bände. So kannst du nicht mehr weitermachen.«
»Ich weiß. Vielen Dank für dein Vertrauen.«
»Du kennst meine Wohnung, sie ist groß genug. Das Sofa im Wohnzimmer eignet sich gut als Bett. Bleibt nur das Problem, ob du bei mir arbeiten kannst. Mein Computer ist okay.«
»Ich muss nur meine Unterlagen holen.«
»Gut, dann gehen wir. Ich bin verdammt müde. Außerdem halb betrunken von dem vielen Trollinger. Höchste Zeit, dass ich ins Bett komme.«
Sie trank den Rest ihres Weines, winkte der Bedienung. Beide zahlten, erhoben sich dann. Der Bärtige am Nachbartisch erzählte mit kreischender Stimme seinen neuesten Witz.
7. Kapitel
Der Taxifahrer hatte Mühe, den Namen der Straße zu verstehen.
»A bissle viel getrunken, wie?«, fragte er lächelnd. Er hatte rabenschwarze Haare, einen dunklen, dichten Schnurrbart, gebräunte Haut, sprach gebrochen Deutsch. Auf der Konsole neben dem Steuerrad lag ein dickes Buch. Goethe. Sämtliche Werke.
Michaela König sah sich außerstande, den Titel genauer zu entziffern.
»Schon, ja«, bestätigte sie seine Vermutung, »aber nur, weil ich solange auf meine Freundin warten musste.« Sie lachte, hatte Mühe, sich gerade zu halten. »Fünf oder sechs Trollinger.«
»Aber die Straße existiert trotzdem«, ergänzte Verena Litsche, »in Bebenhausen am Ortsrand. Nicht weit vom Kloster.« Sie blickte sich nervös um, suchte den im Dämmerlicht mehrerer Straßenlampen liegenden Platz nach Verdächtigen ab.
Der Taxifahrer nickte, steuerte den Wagen aus der Innenstadt.
»Und Sie warten bitte, bis wir zurück sind. Wir holen nur etwas Gepäck und wollen dann wieder in die Stadt. Es geht schnell.«
Bebenhausen liegt wenige Kilometer von Tübingen entfernt, umgeben von den dichten Wäldern des Schönbuch. Die Häuser der kleinen Ortschaft gruppieren sich um eine der besterhaltenen Klosteranlagen Deutschlands, die aus dem 12. Jahrhundert
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