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Schwaben-Hass

Schwaben-Hass

Titel: Schwaben-Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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gegen viele Tausend? Warum schaust du es dir nicht an?«
    Er versuchte, ruhig zu bleiben, seine Wut zurückzuhalten. Sie war seine Mutter, hatte viele Jahre ihre Kraft und Gesundheit geopfert, ihn aufzuziehen. Er musste ihr zuhören. Sie hatte ihm sein Leben geschenkt, ihm trotz aller widrigen Umstände hier, in dem ihr fremden Land eine glückliche Kindheit beschert und mit mühsamer Schufterei eine hochwertige Ausbildung finanziert. Er war es ihr schuldig zuzuhören und einen Teil ihres Frustes und ihrer Ängste auf sich zu nehmen, auch wenn es ihm schwer fiel.
    »Was meinst du?«, fragte er bemüht freundlich.
    »Deine Freunde haben das Land, in dem du geboren bist, verseucht. Mit Atom. Fast genauso wie damals in Japan.«
    »Mama, bitte, fang doch nicht wieder damit an, jetzt, so spät …«
    »Sie haben es im Fernsehen gezeigt. Ganz genau!«
    Er wusste, worauf sie hinauswollte. Seit Wochen war es ihr neues Thema.
    Die NATO hatte bei ihren Angriffen auf Jugoslawien vor wenigen Jahren Munition verschossen, deren harter Kern aus abgereichertem Uran bestand, eine Spezialwaffe zur Bekämpfung von Panzern. Der Urankern, so lautete die Erklärung der Militärs, durchdringe den Panzerstahl, zerstäube anschließend und entzünde sich, worauf der Innenraum des getroffenen Panzers sofort verbrenne.
    Die Boulevard-Medien hatten nach dem Bekanntwerden des Einsatzes dieser Munition mit großen Schlagzeilen eine atomare Verseuchung des Kosovo, ja ganz Jugoslawiens annonciert, was von den Nationalisten des Balkan-Staates dankbar als neues Propaganda-Argument gegen den Westen aufgegriffen worden war. Braig wusste, dass sich diese Berichte inzwischen als unhaltbare Gräuelmärchen herausgestellt hatten. So sehr er das Vorgehen der NATO gegen das Land kritisierte, verabscheute er es dennoch, mit offensichtlich falschen Behauptungen in eine neue Propagandaschlacht einzutreten.
    Seriöse Wissenschaftler, auch solche, die sich aktiv gegen Atomwaffen engagierten, hatten den Vorwurf einer atomaren Verseuchung Jugoslawiens und des Kosovo als indiskutablen Unsinn abgetan. Allein die Besatzung der Panzer war, ihren Ermittlungen zufolge, einer drastischen Strahlenbelastung unterworfen, nach dem Brand des Kriegsfahrzeugs hatte sich das Pulver jedoch soweit verteilt, dass es nach Berechnungen unabhängiger Studien radiologisch keine Rolle mehr spielte. Braig hatte gelesen, dass sich viele Wissenschaftler über die marktschreierische Darstellung der Gefahren der Uranmunition empörten, lenke dieses Geschwätz doch von den real existierenden und wirklich katastrophalen Folgen des Krieges im Kosovo ab: Der weitgehenden Verminung ganzer Landstriche.
    Auch wenn sich seine Mutter noch so sehr aufregte, war er deshalb nicht bereit, ihrer Kritik zuzustimmen.
    »Wie geht es deinen Beinen?«, fragte er, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Durchblutungsstörungen und rheumatisch bedingte Schmerzen machten ihr immer mehr zu schaffen.
    »Du brauchst nicht abzulenken!« schimpfte sie. »Sonst kümmert dich meine Gesundheit doch auch nicht.«
    »Du weißt, dass das nicht stimmt.«
    »Nicht stimmt?« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. »Wenn ich heute sterbe, wird mein eigener Sohn es vierzehn Tage lang nicht merken. Du hast doch überhaupt kein Interesse an deiner Mutter!«
    »War es das, was du mir sagen wolltest«, brummte er müde, mit schmerzendem Schädel, »zehn Minuten vor Mitternacht?«
    »Eines Tages wirst du daran denken! Wenn ich tot in der Wohnung liege und du dich dann fragst, warum du deine eigene Mutter vergessen hast. Wer weiß, ob es noch lange dauert, bis es so weit …« Sie setzte zu einer neuen Tirade an, ließ ihrem Frust in einer Schimpfkanonade freien Lauf.
    Braig war nicht bereit, sich ihren Vorwürfen noch länger zu unterwerfen, donnerte den Telefonhörer auf den Apparat. Sollte sie sich ein anderes Opfer suchen, ihre aufgeputschten Emotionen zu beruhigen, er war zu erschöpft, sich über Mitternacht hinaus dafür zur Verfügung zu stellen.
    Einige Monate lang war es besser gegangen, hatte sie sich beruhigt und ihre ewigen, von Einsamkeit und Langeweile geschürten Vorwürfe vergessen, freilich nicht ohne ihn auf andere Art zu beunruhigen: War sie doch in Kreise geraten, die – ekstatisch, voll religiösen Wahnes – Wochenende für Wochenende zu angeblichen Erscheinungen Marias, der Mutter Gottes, nach Marpingen, einem kleinen Dorf im Saarland, pilgerten, um dort die neusten Anweisungen der Heiligen in Empfang zu

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