Schwaben-Hass
ohne jede Vorwarnung.
»Wir wollen das Material«, erklärte er, »Sie wissen, wo es ist. Sie haben zwei Stunden. Geben Sie es nicht freiwillig her, geschieht mit Ihnen dasselbe wie mit Ihrer Freundin, dem Journalisten und dem Taxifahrer. Zwei Stunden. Unsere Leute sind schon vor Ihrem Haus. Sie haben keine Chance.«
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, schwieg. Tannhäusers Ouvertüre donnerte ihrem Höhepunkt entgegen.
»Und machen Sie keine Dummheiten. Nichts mit Polizei und so. Das wäre tödlich. Sie haben genau zwei Stunden Zeit, uns das Material auszuhändigen. Dann werden die Beamten sowieso bei Ihnen auftauchen.«
»Die Beamten?« Ihre Stimme drohte endgültig zu versagen.
»Wegen Ihres Mordes an Frau Litsche.«
»Wie bitte?« Sie schluckte, schnappte nach Luft.
»Sie haben Frau Litsche getötet«, erklärte der Mann mit eiskalter Stimme.
»Ich?«
»Wir werden der Polizei die Beweise in genau zwei Stunden vorlegen. Oder besser: Die Beamten darauf stoßen lassen. Sie haben Frau Litsche heute Nacht mit Ihrem Auto überfahren. Die Spuren an Ihrem Wagen sind eindeutig.«
Sie wusste nicht mehr, ob sie dem Wahn verfallen war oder die Worte wirklich hörte. »Mein Auto?«
»VW Polo. Rote Farbe.« Er nannte das Kennzeichen.
Sie nickte, bestätigte sich selber seine Angaben.
»In zwei Stunden wird die Polizei das Fahrzeug finden. Frau Litsches Leiche davor. Ihr Blut an Ihrem Wagen. Sie haben keine Chance, verstehen Sie?«
»Aber er steht«, sie stotterte erbärmlich, »er steht vor dem Haus.«
»So?« Der Mann lachte laut, übertönte Tannhäuser.
»Dann sehen Sie mal nach!«
»Wie?«
»Sehen Sie nach! Los!« brüllte er.
Sie ließ den Telefonhörer auf die Tischplatte fallen, erschrak über das laute Geräusch, das der Aufprall verursachte, rannte durch ihr Arbeitszimmer Richtung Fenster, rutschte aus, fiel auf den Boden. Ihr Kopf knallte gegen das Gehäuse des Druckers, der inmitten all des Durcheinanders lag. Ein höllischer Schmerz nahm ihr vollends das Bewusstsein. Sekunden später kam sie wieder zu sich, rappelte sich mühsam auf, kämpfte sich zum Fenster.
Die beiden Männer in dem dunklen Wagen schienen zu schlafen. Er stand genau an der Stelle, wo sie ihren Polo geparkt hatte.
»Was ist los?«, geiferte die Stimme aus dem Telefon.
Sie suchte die Straße mit den Augen ab, spürte die Tränen über ihre Wangen fließen. Der Mann hatte Recht, vollkommen. Ihr Auto war spurlos verschwunden. Sie hatte keine Chance.
»Glauben Sie mir jetzt?«, brüllte er, als sie sich wieder meldete.
Sie war nicht fähig zu antworten.
»Das Material. Sie haben zwei Stunden. Machen Sie keine Dummheiten.«
Plötzlich war Tannhäuser verstummt, die Stimme weg. Sie starrte ungläubig auf den Hörer, ließ ihn fallen. Er schlug laut auf den Apparat auf.
Sie hatte Angst, nur noch Angst. Ihre Knie gaben zuerst nach, dann ihre Beine. Sie rutschte der Wand entlang auf den Boden, blieb erschöpft sitzen, dämmerte ein.
Der helle Mercedes stand wenige Meter von ihr entfernt. Seine Scheinwerfer tauchten die Menschen vor ihm in gleißendes Licht. Sie sah zwei Männer und eine Frau, hörte ihre Stimmen.
»Ausweis«, erklärte der Große, Kräftige, »zeigen Sie den Ausweis.«
Er hatte einen mächtigen Bart, trug eine grüne Uniform, stand fordernd vor den beiden anderen. Sein Gesicht wirkte drohend. Die Frau vor ihm protestierte. Sie schien Mitte Vierzig, hatte einen dünnen, fast schmächtigen Körper. Neben dem muskulösen Hünen wirkte sie wie eine wehrlose, zerbrechliche Puppe.
»Ihren Ausweis«, wiederholte der Mann.
Die Frau schien aufgeregt, schüttelte den Kopf.
Michaela König betrachtete sie genauer, merkte, dass sie sie schon einmal gesehen hatte.
»Schon wieder ein Attentat?«, rief die Frau mit angsterfüllter Stimme, »warum halten sie uns hier fest?«
Plötzlich fiel es Michaela König wie Schuppen von den Augen. Die Frau, die hier abgemagert und zerfressen von Furcht und Sorgen vor ihr auf der Straße stand, war ihre Freundin Verena Litsche. Sie wollte schreien und sie warnen, aber es war schon zu spät. Der helle Mercedes mit seinen gleißenden Scheinwerfern raste los, geradewegs auf die beiden Menschen zu, warf sie auf den Boden und überrollte sie. Ein schriller markerschütternder Schrei hing in der Luft und der stechend-intensive Geruch eines herben Rasierwassers waberte ihr in die Nase. Sie wollte aufspringen und Verena Litsche vor den heranrasenden Rädern des Fahrzeugs in
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