Schwaben-Hass
Pflanzen lag in der Luft.
Sie atmete tief durch, schaute sich sorgsam um. Der Mann war nicht mehr zu sehen, eine junge Frau auf einem Mountainbike näherte sich von der anderen Seite. Sie ließ die Radfahrerin passieren, folgte dann dem Weg zum Ausgang.
Auf der Wilhelmstraße herrschte dichter Verkehr. Michaela König mischte sich in den Strom der Fußgänger, richtete den Blick auf den Boden. Zehn Minuten später hatte sie den Hauptbahnhof erreicht.
Die kleine Halle war voller Menschen. Berufstätige, Studenten, einige wenige Touristen. Sie sah die Schlange im Reisezentrum vor dem Fahrkartenschalter, suchte einen Automaten. Den Code für Stuttgart hatte sie schnell gefunden. Sie zog ihren Geldbeutel vor, steckte einen Schein in den Schlitz. Der Automat sog das Papier in sich auf, druckte die Fahrkarte, gab sie mitsamt dem Wechselgeld frei.
Sie schaute auf die Uhr, verglich sie mit dem Fahrplan. Bis zur Abfahrt des nächsten Zuges blieben noch acht Minuten. Sie atmete erleichtert auf, mischte sich in die Gruppe der Reisenden, die zum Bahnsteig strömten.
Draußen fand sich die für den Tübinger Bahnhof übliche Menschenansammlung. Reisende mit Aktenmappen, kleinen Koffern, Rucksäcken, eine Gruppe von Jugendlichen, in intensive Diskussionen vertieft, lärmend, hüpfend, tanzend.
Die Lautsprecher kündigten die Ankunft des Regionalexpress aus Stuttgart an, wiesen auf die sofortige Rückfahrt des Zuges hin. Bewegung kam in die Menschenmenge, Abschiedsszenen, Suche nach den Gepäckstücken, aufgeregtes Starren nach dem einfahrenden Zug.
Michaela König entdeckte den Mann, als der erste Wagen die Ausläufer des Bahnsteigs erreicht hatte. Er stand breitbeinig an der Wand des Bahnhofsgebäudes, musterte mit starrem Blick die Reisenden.
Sie erkannte ihn sofort, auch ohne die Polizeiuniform von heute Nacht. Sein großer schwarzer Bart, der massige kräftige Körper. Er war es, ohne jeden Zweifel. Keine dreißig Meter von ihr entfernt.
Das Entsetzen begann in den Knien, setzte sich die Oberschenkel hoch fort, fraß sich in ihren ganzen Leib. Der Mann stand leicht erhöht auf einer Ansammlung von Steinen und suchte den Bahnsteig mit seinen Augen ab – nach ihr. Michaela König spürte, wie ihre Beine zu versagen drohten, fühlte, wie ihr Magen revoltierte. Sie waren in die Wohnung eingedrungen, nachdem sie auf ihre Forderung nicht reagiert hatte und jetzt überwachten sie den Bahnhof, das einzige Tor, durch das sie ihnen entkommen konnte.
Der Zug fuhr ein, die Menge setzte sich in Bewegung. Sie wusste nicht, was tun. Einsteigen, mit dem Risiko, von dem Bärtigen entdeckt, verfolgt, vielleicht gar getötet zu werden? Oder stehenbleiben und dadurch erst recht auffallen, weil sie sich so von der Gruppe der dem Zug entgegeneilenden Leute isolierte?
Sie überlegte nicht länger, reihte sich in die reisewillige Menge ein. Der Zug hielt, die Türen wurden geöffnet, mit Aktentaschen und Koffern bepackte Frauen und Männer stiegen aus.
Plötzlich hatte sie den herb-stechenden Geruch in der Nase. Erschrocken drehte sie sich um, sah den Mann keine fünf Meter von sich entfernt. Er starrte ihr voll ins Gesicht. Panik erfasste sie, von den Zehen bis zur Stirn. Er war es, ohne Zweifel. Obwohl sie heute Nacht nur einen Teil seines Gesichts gesehen hatte, die Haare und die Stirn unter der Mütze verborgen, erkannte sie ihn sofort wieder. Die Augen, klein, schmal, leicht in die Breite gezogen, unnahbar, kalt. Struppige Koteletten auf den Backen. Der angebliche Polizeibeamte mit dem deutlich fremdländischen Akzent, der das Steuer des Mercedes übernommen und Verena Litsche und den Taxifahrer kaltblütig überfahren hatte. Der Mann gaffte sie immer noch an, offenbar genauso überrascht wie sie selbst, unfähig zu reagieren. Menschen, beladen mit Reisegepäck, drückten sich an ihnen vorbei. Ein Schwall seines Rasierwassers ließ das Bild des schrecklichen Geschehens neu entstehen, raubte ihr fast die Besinnung.
Michaela König reagierte impulsiv, ohne jede Überlegung. Die vornehme ältere Dame, die mit einer leichten Sommerjacke und einem langen hellen Rock bekleidet aus dem Zug auf sie zukam, war kaum über Sechzig. Sie kämpfte sich durch die Menschenmenge, strebte dem Bahnhofsgebäude zu.
Michaela König handelte blitzschnell. »Ich bitte um Entschuldigung«, stammelte sie, packte die Frau an der Schulter und schob sie zwei, drei Schritte zur Seite, direkt auf den Mann zu. Die Frau wusste nicht, wie ihr geschah, riss die
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