Schwaben-Hass
Informantin. Sie sei eine absolut verlässliche, mit seriösen Methoden arbeitende Journalistin. Genau dasselbe Urteil, das in unserem Haus jeder über Harry ausstellen würde, wenn Sie danach fragen. Er ist, entschuldigen Sie, er war, absolut integer, was seine Tätigkeit als Journalist betrifft. Das ist der Grund, weshalb wir uns in dieser Sache voll und ganz auf ihn verließen.«
»Die Frau ist namentlich niemand bekannt?«
Klaudia Kunst schüttelte den Kopf, stieß eine blaue Rauchwolke weit von sich.
»Gibt es einen anderen Ansprechpartner? Eine Person, die Kontakt zu der Frau hält?«
»Leider nein. Wir wissen jedenfalls von niemandem.«
Braig trank von seinem Kaffee, überlegte. »Ist das nicht außergewöhnlich, dass selbst die Chefredaktion nicht darüber informiert ist, was ihr Blatt in wenigen Tagen an exponierter Stelle veröffentlichen wird?« Die Frage brachte seine immer noch vorhandene Skepsis deutlich zum Ausdruck.
Die Frau ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Ja, das ist außergewöhnlich, in der Tat«, sagte sie dann, »auch für unser Haus. Aber die Bedingungen, unter denen Harrys Informantin arbeitete, waren es offensichtlich auch. Sie ist, wenn ich seine Aussagen richtig wiedergebe, seit über einem Jahr mit Recherchen beschäftigt. Harry betonte mehrfach, dass die Frau um ihr Leben fürchte. Auf unsere Nachfrage hin wollte er nicht ausschließen, dass ihre psychische Situation auch eine Folge zu intensiver Arbeit sein könne, sie muss ihre Recherchen ohne jede Pause durchgezogen haben. Stress bedingte Paranoia, sozusagen. Aber er hatte ihr verbindlich zugesagt, der Redaktion erst kurz vor der Drucklegung genaueren Einblick in ihr Projekt zu geben. Nächsten Donnerstag etwa, weil der erste Teil ihrer Untersuchungen am kommenden Samstag erscheinen sollte. Das hätte uns genug Zeit gegeben, zu überlegen, ob wir die Sache wirklich bringen. Obwohl ich diese Option von meinem heutigen Standpunkt aus weitgehend ausschließen kann, einfach weil ich Harry und seine Arbeit zu lange kenne.«
»Halten Sie es für möglich, dass sich bestimmte Leute von der Arbeit eines Journalisten oder einer Journalistin so bedroht fühlen, dass sie bereit sind, ihn oder sie zu töten? Hier bei uns in Deutschland wohlgemerkt, nicht in Russland oder den USA?«
Klaudia Kunst wandte sich ihm zu, schaute ihn ruhig an. »Meinen Sie diese Frage wirklich ernst?«
Braig gab keine Antwort.
»So naiv können Sie selbst hier in Stuttgart nicht sein, die Bedrohung, der kritische Journalisten fast alltäglich ausgesetzt sind, wirklich infrage zu stellen.« Sie nahm einen Zug, blies den Rauch von sich. »Wenn eine Firma oder eine Organisation sich durch eine drohende Veröffentlichung bloßgestellt fühlt, werden die alles unternehmen, eine Publikation zu verhindern. Alles, verstehen Sie? Die mehr oder weniger subtilen Methoden der Lobbyisten erleben wir jede Woche. Müssen wir darüber diskutieren? So viel Zeit haben wir nicht.«
»Vorausgesetzt, Ihr Kollege wurde wirklich seiner Recherchen wegen ermordet, wo sollen wir nach den Verantwortlichen suchen? Haben Sie Vorschläge?«
Braigs Besucher blickten ihn ratlos an. »Da gibt es prinzipiell niemand, den ich von vornherein ausschließen würde«, meinte Gerd Nolski.
»Politiker?«, fragte Braig. Er wagte es nicht, den Namen des Ministers zu nennen, wollte keine schlafenden Hunde wecken. Noch war nicht belegt, dass es sich bei den Bildern wirklich um Originalaufnahmen handelte.
»Sie denken an eine konkrete Person?«, fragte Klaudia Kunst.
Braig bemühte sich, möglichst unverbindlich zu antworten. »Ich leider nicht, vielleicht aber Sie?«
»Wie kommen Sie auf Politiker?«, fragte Nolski.
Braig wurde es unbehaglich zumute. »Zufall«, sagte er, »ich warte auf Hinweise von Ihrer Seite.«
Die beiden Journalisten betrachteten ihn misstrauisch, schüttelten dann den Kopf.
»Sie können uns überhaupt keinen Anhaltspunkt liefern?«
Gerd Nolski trank den Rest seines Kaffees, blickte aus dem Fenster. »Harry und ich waren weitläufige Freunde«, erklärte er, »ab und an gingen wir zusammen in eine Kneipe, manchmal auch ins Theater, wie es sich ergab. Vor drei oder vier Wochen etwa kamen wir darauf zu sprechen, wie er seine Zukunft sehe, nun, wo er beim Stern unterschrieben hatte. Wir sprachen über seine Zeit bei uns, seine Erfolge, die Veröffentlichungen. Er erklärte mir, dass er einen aufsehenerregenden Abgang plane, eine Sache, die die tageszeitung über Monate
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