Schwaben-Hass
aufgerissen, die hellen Strahlen der Sonne tauchten die Berge mit ihren Rebhängen und die Silhouetten der Fabrikanlagen darunter in ein grelles Licht.
Dass sie hier im obersten Stockwerk des Amtes residierten und diese grandiose Aussicht genossen, war der Energie und dem Beharrungsvermögen seines Vorgesetzten, Kriminalrat Gübler, zuzuschreiben. Entgegen dem ursprünglichen Willen der Amtsleitung hatte der kleine grauhaarige Mann bei der Neuordnung der Zimmerverteilung vor einigen Jahren darauf bestanden, sich und seine Mitarbeiter in einer Höhenlage zu platzieren, die ihnen einen weiten Blick über Bad Cannstatt und das Neckartal bis hin zum von der Grabkapelle der Königin Katharina gekrönten Württemberg erlaubten. Er benötige das Panorama zur vollen Entfaltung seines kriminalistischen Spürsinns, hatte Gübler allen Einwänden zum Trotz erklärt. Wer die kleine, stets in unauffällig graue Anzüge gekleidete Person kannte, wusste, dass mit ihr nicht leicht Kirschenessen war. Nach langen Querelen und viele die Arbeit des Amtes lähmenden Auseinandersetzungen hatten Güblers Widersacher schließlich resigniert und ihm das Recht auf die Zimmerflucht in der obersten Etage eingeräumt.
Braig starrte aus dem Fenster, sah die dunkle Wolke, die sich von Nordwesten her überraschend schnell vor die Sonne schob. In wenigen Minuten würde es wieder zu regnen beginnen, schätzte er, typisches Aprilwetter jetzt schon, im März. Er dachte an den Minister, überlegte, welche Fragen er ihm stellen sollte. Einerseits musste er darum bemüht sein, auch gegen den Widerstand des Mannes, die Wahrheit über dessen Verhalten herauszufinden, andererseits diplomatisch bleiben, um einer Person mit dieser Machtfülle gegenüber nicht zu aggressiv aufzutreten. Noch hatten sie keine Beweise, dass er hinter den Morden stand, noch war er nicht überführt. Die Fotos mit den Kindern mochten Hinweise auf ein Motiv liefern, sie waren jedoch – zumindest juristisch – keine Beweise, mit denen der Politiker überführt und verurteilt werden konnte. Noch nicht einmal ihre Authentizität war belegt. Vielleicht gelang es Schiek heute in Wiesbaden, mit den Kollegen des BKA und deren ausgefeilter Technik, doch noch zu einem abschließenden Urteil zu gelangen.
Als die nächsten Regentropfen an die Scheibe klopften, sah Braig das Fax in der Ablage. Er lief zu seinem Schreibtisch, nahm das Blatt hoch, erinnerte sich, dass ihn Kriminalmeister Stöhr vorhin beim Betreten des Büros empfangen und von der Überprüfung der eingegangenen Schreiben abgehalten hatte.
Das Fax enthielt keine großen Neuigkeiten, lediglich die vom Chef der Fahndungsabteilung unterzeichnete Mitteilung, dass sich im Zuge ihrer nächtlichen Aktion zwar insgesamt vier Verhaftungen seit langem gesuchter Personen, jedoch nicht ein einziger ernsthafter Hinweis auf den gesuchten albanischen Gewalttäter ergeben hatten. Das war keine große Überraschung; Braig wunderte sich jedenfalls nicht über den Misserfolg, hatte er insgeheim doch kaum erwartet, einen Verbrecher dieses Kalibers so schnell überraschen zu können. Sie durften es jedoch keinesfalls bei dieser einen Aktion belassen, mussten vielmehr dafür sorgen, sie so schnell als möglich auf Bundesebene auszudehnen und auch möglichst viele Nachbarländer darin einzubeziehen.
Braig schaute auf seine Uhr, erschrak. Fünf nach Zehn. Er musste sich mit Hofmann zusammensetzen, das Gespräch mit dem Minister vorbereiten.
Braig verließ sein Büro, ging nach nebenan, wo Felsentretter in Neundorfs Büro während deren Abwesenheit logierte. Der groß gewachsene Mann hatte die Einrichtung des Zimmers geringfügig verändert, den Schreibtisch näher ans Fenster gerückt, Aktenstapel vom Tisch auf den Boden ins Eck verpflanzt, sich dazu einen von der Höhe her passenden, eigenen drehbaren Stuhl beschafft, saß dort jetzt breitbeinig vor dem Computer, gaffte auf den Monitor.
Braig bedankte sich bei dem Kollegen für die schnelle Übersetzung des Berichts der italienischen Polizei, bat ihn, sich um die Koordination der Fahndung nach dem Albaner zu kümmern. Kaugummi kauend, den Kopf zur Seite gedreht, sagte Felsentretter zu.
Als Braig in sein Büro zurückkam, läutete das Telefon. Er spurtete zum Schreibtisch, nahm ab. Bernhard Söhnle meldete sich mit müder Stimme aus Tübingen.
»Ich bin mit Beck und Schöfflers Team hier. Schon wieder.
Die stellen immer noch alles auf den Kopf. Wir haben Neuigkeiten im Zusammenhang mit der
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