Schwaben-Hass
Individuum über die ernste Lage seiner Existenz hinwegzutäuschen. Durfte man jede höhere Bedeutung so schnell zur Seite schieben?
Die Frage, ob der Tod des Körpers wirklich mit dem endgültigen Ende eines Individuums identisch war oder ob es nicht eine darüber hinausreichende Form des Fortbestehens gebe, bewegte die Menschheit schließlich, seit sie ein eigenes, über den Sinn ihres Lebens reflektierendes Bewusstsein entwickelt hatte. Das war immerhin einige tausend Jahre her. Nichts, aber auch gar nichts, hatte dieser Gedanke im Verlauf der Zeit an Faszination eingebüßt. Nach wie vor fußte die Hoffnung Unzähliger auf der Vorstellung, dass es – in welcher Form auch immer – eine Weiterexistenz gab; dass der körperliche Tod keinen Endpunkt, sondern einen Übergang hin zu einer anderen Realität darstellte. Viele Religionen und Weltanschauungen unterstützten diesen Gedanken, wurden nicht müde, ihren Anhängern Glück und neue Chancen in einer zukünftigen Welt zu versprechen. Alles nur Hokuspokus, Vortäuschen falscher Tatsachen, hohle Versprechungen ohne ernsthaften Hintergrund? Woher resultierte dann der Wunsch so vieler Menschen auf ein Fortbestehen nach dem körperlichen Tod, wenn es angeblich überhaupt keine Anhaltspunkte gab, die zur Hoffnung auf eine Realisierung dieses Gedankens berechtigten?
Braig betrachtete die kantigen, eingefallenen Wangen seiner Mutter, sah die letzten Tage in ihrem Gesicht aufgezeichnet. Trotz der Beschwernis dieser Zeit lag sie nicht matt und abgekämpft vor ihm, sondern war aufgeblüht wie eine Blume, der ein Gärtner frischen Dünger hatte zukommen lassen.
»Dort drüben ist es wunderschön. Wir alle werden es erleben«, wiederholte sie immer wieder.
Er nickte mit dem Kopf, lächelte ihr zu. Wenn das außergewöhnliche Erlebnis ihr so viel Kraft, so viel neuen Lebensmut vermittelt hatte, wie es hier offenbar wurde, dann war der vermeintliche Blick in eine andere Realität wahrlich ein Schritt zu neuem Leben: einem Leben in der alten Welt.
Braig war sich darüber klar, dass er heute kritische Fragen zurückhalten und jeden Anflug von Skepsis verdrängen musste, um die zum Überleben so wichtige Euphorie seiner Mutter nicht zu beeinträchtigen.
So saß er auf ihrem Bett, ließ seine Hand in der ihren ruhen und widersprach nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm wieder und wieder erzählte, wie schön die jenseitige Welt war, die jeden nach dem Sterben erwarte.
35. Kapitel
Kurz nach Vier am frühen Morgen wachte sie auf. Sie hörte irgendein unbekanntes Geräusch, schrak zusammen, fuhr im Bett hoch. Schnarchen, lautes intensives Schnarchen.
Michaela König starrte über das Bett zur Tür, sah den Mann auf dem Boden liegen. Eingepackt in verschiedene Decken schnappte er nach Luft, röchelte vor sich hin. Sein Schnarchen gewann an Intensität.
Plötzlich fiel ihr ein, wo sie war. Sie hatte ihm alles erzählt, was sie im Verlauf der letzten Tage erlebt hatte, dann fast den ganzen Sonntag geschlafen, sich abends von ihm belegte Brote und Getränke aufs Zimmer bringen lassen, schließlich ein, zwei Stunden mit ihm darüber spekuliert, wo Verena Litsche die Diskette deponiert haben konnte.
»Wo würden Sie etwas verstecken, wenn Sie sicher gehen wollen, dass nur Ihnen vertraute Personen diesen Ort finden dürfen?«
»Hatte Frau Litsche außergewöhnliche Vorlieben, Hobbies, Ideen, die nur Ihnen oder anderen ausgewählten Leuten bekannt sind?«
»Welchen Zufluchtsort hätte Frau Litsche vorgesehen, hätte sie etwas verstecken müssen?«
»Welche Person(en) kannte Frau Litsche so gut, dass sie ihnen/ ihr/ ihm einen wertvollen Gegenstand anvertraut hätte?«
Sie hatte sich all seine Fragen, Anregungen, Gedanken durch den Kopf gehen lassen, hatte nach Antworten gesucht, sich endlos über eine Lösung den Kopf zerbrochen. Wer waren die Menschen, wo waren die Orte, denen Verena am ehesten einen offensichtlich unermesslich wertvollen Gegenstand übergeben hätte?
»Worüber haben Sie miteinander gesprochen an jenem letzten Abend in diesem Ammerschlag oder auch schon Wochen vorher, was hat Frau Litsche erwähnt, wenn die Rede auf ihre Recherchen kam?«
Wie im Zeitraffer hatte sie versucht, die Tage und Stunden zurückzurufen, sich in die Augenblicke zu versetzen, in denen sie miteinander gesprochen, sich über ihre Untersuchung und die große Bedeutung, die diesen Recherchen zukam, unterhalten hatten. Es war ihr nicht möglich, sich zu erinnern, was ihre Freundin in
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